Honigmilch
Kilometer dahinter, in Zelezná Ruda, säumten Nachtbars die Durchfahrtsstraße.
»Dorthin strömen die Devisen«, meinte Fanni.
Sprudel nickte. »Aber dorthin auch«, sagte er und deutete auf die Spielbank inmitten von Läden, die Zigaretten und Spirituosen en masse anboten.
Kurz nach Zelezná Ruda, das die Bayern »Böhmisch Eisenstein« nennen, zweigte ein schmales, holpriges Sträßchen nach rechts ab. Sprudel setzte den Blinker.
Entlang der Route mündeten nun Wanderwege, die von den Berggipfeln im tschechischen Teil des Nationalparks herunterführten. Fanni las die Namen der Berge aus der Karte: »Polom, Plesná, Køemelná.«
Von Zeit zu Zeit schaukelte Sprudels Mietwagen an einem schäbigen Gehöft vorüber.
»Trostlos«, sagte Fanni.
Hinter Hartmanice – einer Ansammlung armseliger Häuser samt einer verwahrlosten Kirche in ihrer Mitte – querte die Straße den Fluss Otava und schlängelte sich bis Radesˇov an dem trägen Gewässer entlang. Ab Radesˇov warben überdimensionale Plakattafeln am Straßenrand für das Hotel Sumava in Kasˇperské Hory.
Sprudel folgte diesen Wegweisern einen Hügel hinauf, und wenig später kam der Turm der Pfarrkirche von Bergreichenstein in Sicht.
Sprudel hielt darauf zu und parkte den Wagen im Schatten des Kirchengemäuers.
»Tot, verstorben, entschlafen«, flüsterte Fanni.
Sprudel sah sich erschüttert um. »Bergreichenstein soll einmal eine der reichsten Städte Böhmens gewesen sein. Im Mittelalter sind unter den Häusern von Kasˇperské Hory Goldminen entdeckt worden. Die Ausbeute war so hoch, dass Kaiser Karl IV. extra einen Handelsweg nach Passau anlegen und zum Schutz der ganzen Gegend die Burg Karlsberg erbauen ließ.«
Fanni zog eine Grimasse. »Er ist längst wieder zugewachsen, dieser goldene Steig. Und die Burg …« Sie zeigte auf einen der umliegenden Hügel.
»… hat ihre besten Tage hinter sich«, gab Sprudel zu. »Alles Gold war halt irgendwann einmal geschürft. Aber«, fuhr er fort, »es heißt, die Bürger Bergreichensteins ließen sich deshalb nicht unterkriegen. Sie verlegten sich auf den Handel mit Glas, Holz und Vieh, und die guten Zeiten hielten noch lange an. Das Rathaus soll aus ihnen erhalten geblieben sein, die Pfarrkirche und die Friedhofskirche St. Anna.«
Besagte Pfarrkirche ragte grau und trist vor Fanni auf.
»Sieht so aus«, sagte sie, »als sei die mittelalterliche Blüte Bergreichensteins unwiderruflich verwelkt.« Sie deutete auf das bucklige Pflaster des Kirchplatzes. »Ein paar verwitterte Knochen ragen dort und da heraus – original aus dem 14. Jahrhundert.«
Sprudel seufzte. »Heutzutage nennt sich Bergreichenstein die höchstgelegene gotische Stadt Böhmens und versucht Touristen anzulocken – mit dem Hotel Sumava, mit gut markierten Wanderwegen für den Sommer, mit frisch gespurten Loipen für den Winter.«
»Das Hotel scheint mir geschlossen«, sagte Fanni. »Und das Restaurant daneben auch.«
Sprudel und Fanni umrundeten die Kirche, die ihre Pforten unbeugsam verriegelt hielt. Neben einem der versperrten Eingänge entdeckte Fanni drei Granitsteine mit je einer Vertiefung im oberen Segment.
»Goldmühlen«, las sie auf einer Tafel daneben. Sie sah Sprudel an, der ratlos die Schultern zuckte.
»Die Bergreichensteiner haben goldenes Brot gebacken«, sagte Fanni. Sprudel grinste.
Fanni wandte sich von den merkwürdigen Goldmühlen ab und schaute über den Platz. Südlich der Pfarrkirche stand ein Gebäude mit der Aufschrift »Heimatmuseum«. Fannis Blick wanderte über vergitterte Fenster und bröckelnden Putz.
Die Fassade des Heimatmuseums lässt hinsichtlich der Ausstellungsstücke im Inneren nichts Gutes ahnen, dachte sie und sah sich die Nachbarhäuser des Museums an: grau, heruntergekommen, abweisend.
In der Westkurve des Ovals, das Bergreichensteins Häuser um ihre Kirche formten, geriet ein Schaufenster in Fannis Blickfeld. An der Mauer darüber entdeckte sie Buchstaben aus Blech, die bei genauem Hinsehen das Wort »Co op Konzum« ergaben. Im Schaufenster konnte sie Plastikgeschirr und Plastikblumen erkennen.
Fanni fröstelte.
Ihr Blick folgte der Kurve in die Gerade und blieb noch mal an künstlichen Pflanzen hängen. Sie wehten an Drähten über einem Marktstand, an dem eine Asiatin Strickwesten zum Kauf anbot.
»Bemerkenswert«, sagte Sprudel und wies auf das Rathaus hinter den Plastikveilchen. »Barock? Renaissance? Auf jeden Fall wunderschön renoviert.«
»Aber warum wirkt es auf
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