Honigmilch
den Nachmittag dämmrig machte.
Wenn ich die dunkle Jacke nehme, die Kapuze über den Kopf ziehe und mich über die Steintreppe zum Kellerschacht hinaufschleiche, wird mich keiner sehen.
Tu’s nicht!
Sie machte sich fertig.
15
Als sich Fanni über das noch immer schräg stehende Gitter des Kellerschachts beugte, durch das sie knappe vier Stunden zuvor geflüchtet war, hörte sie plötzlich Doc Hallers Stimme hinter sich.
»Suchen Sie das hier?«
Fanni richtete sich auf. Doc Haller hielt in einer Hand ihr Handy, in der anderen eine Injektionsspritze mit einer langen, bösartig aussehenden Nadel.
Er warf ihr das Handy zu.
In diesem Moment gelang Fanni etwas, das ihr während ihrer gesamten Schulzeit bei sämtlichen Ballspielen im Sportunterricht verwehrt geblieben war.
Sie fing es.
»Hier entlang, Frau Rot«, sagte der Doc, trat nah an sie heran und deutete mit der Spritze zur Haustür.
Hau ab!
»Und denken Sie nicht einmal dran, mir wegzulaufen«, fügte er hinzu.
Die Nadel war zu Fanni zurückgekehrt und zeigte mit der Spitze auf ihre Halsschlagader.
Folgsam ging Fanni vor Doc Haller her zur Haustür. Er dirigierte sie zu der Treppe, die in den Keller führte.
Als Fanni einige Stufen hinuntergestiegen war, sah sie unten ein voluminöses Bündel liegen und zögerte.
Doc Haller gab ihr einem Stoß, sodass sie die Treppe vollends hinunterstolperte. Kurz vor dem Bündel fing sie sich wieder. In diesem Moment löste es sich in einzelne Bestandteile auf: zwei Paar Füße, zwei Paar Arme, ein grauer Lockenkopf.
Docs Frau!
Haller schob Fanni von hinten an und zwang sie damit, über seine Frau hinwegzusteigen und den Gang hinunter zum Laborraum zu gehen. Er folgte ihr hinein, dann schloss er die Tür.
»Ihre Frau …«, stammelte Fanni.
Doc Haller winkte unwillig ab und zeigte auf einen Hocker neben der Anrichte.
Fanni setzte sich.
Haller blieb vor ihr stehen. »Meine Frau«, sagte er, »war noch ein ganzes Stück dümmer als Sie, Frau Rot. Elsbeth dachte, sie könnte klammheimlich Beweise gegen mich zusammentragen. Gegen Doktor Theo Haller! Sie hat sogar hier drin herumgeschnüffelt. Als die Sache mit Annabels Polioinfektion ans Licht kam, wollte sie mit allem herausrücken. Ich konnte es ihr ansehen. Natürlich bin ich ihr zuvorgekommen.«
»Sie haben Ihre Frau fast zwei Wochen lang eingeschlossen!«, japste Fanni.
»Dank ihrer selbst hergestellten Baldriantinktur hat sie die meiste Zeit geschlafen«, antwortete Haller. »Und das hätte noch lange so bleiben können.« Die Nadel machte eine kleine Bewegung auf Fannis Hals zu. »Aber wer musste denn Elsbeths Kerker aufschließen? Sie, Frau Rot. Sie allein sind schuld, dass Elsbeth jetzt hier auf dem Betonboden liegt. Ich habe meine Frau am Telefon erwischt und musste sie wegschubsen. Elsbeth ist zu schwer und zu ungelenk, als dass sie sich fangen hätte können.« Er lachte. »Sie hätte mehr laufen sollen. Aber wenn sie auf den Falkenstein wollte, hat sie immer nach einer Mitfahrgelegenheit Ausschau gehalten.«
Fanni schwieg.
Doc Haller senkte die Nadel und lehnte sich an die Anrichte. »Sie hätten Ihr Spürnäschen dort lassen sollen, wo es hingehört, Frau Rot – am Kochtopf.« Plötzlich schlug er sich mit der freien Hand an die Stirn. »Nun hätte ich beinahe vergessen, dass ich vorhin extra für Sie mein Spezialgetränk zubereitet habe: Honigmilch mit Kognak.«
»Woher wussten Sie, dass ich komme?«, sagte Fanni.
»Davon ging ich aus, nachdem ich das Handy mit all den eingespeicherten Rot-Nummern – Leni Rot, Leo Rot und so weiter – entdeckt hatte«, antwortete Haller blasiert, nahm ein volles Glas von der Anrichte und hielt es Fanni hin.
Sie rührte sich nicht.
Der Doc schien amüsiert. »Trinken Sie ruhig. Es schmeckt hervorragend und wirkt sehr entspannend.«
Fanni verschränkte die Finger und presste die Lippen aufeinander.
Haller lachte. »Keine Angst, die Honigmilch ist sauber.« Er hob die Spritze an. »Wir wollen uns doch vorher noch ein wenig unterhalten, nicht wahr, Frau Rot?«
Fanni nahm das Glas und trank zögernd. Was hatte sie angesichts der Spritze schon für eine Wahl?
Die Honigmilch schmeckte ihr wirklich gut.
»Warum haben Sie Annabel getötet?«, fragte sie.
Doc Haller seufzte. »Ja, das ist eine traurige Geschichte. Annabel war so ein fröhliches, gescheites Kind. Zu gescheit. Sie ist hinter meine geheimen Studien gekommen.«
»Weil Sie Taubnessel nicht von Enzian unterscheiden können?«, fragte
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