Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Münzer
Vom Netzwerk:
vergessen. Erst jetzt ging ihr das richtige Licht auf. Osman hatte Mitleid mit ihr gezeigt! Aber natürlich!
    Beide waren sie Albrecht auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Sie, eine eltern- und mittellose Halbjüdin, und er, ein von Albrechts Vater verstümmelter, älterer Mann ohne Heimat und Zukunft. Erneut musste sie daran denken, was ihr Vater ihr über das Prinzip von Ursache und Wirkung beigebracht hatte: Dass eine jede Tat, ob gut oder böse, eine weitere nach sich zog. Osman hatte sich für den Verlust seiner Zunge gerächt.
    „Hör zu, Deborah. Ich habe nicht viel Zeit. Die Deutschen stellen die ganze Stadt auf den Kopf. Ich muss verschwinden. Es geht um die …“
    „Wie …? Du musst verschwinden? Aber wohin? Sehe ich dich wieder?“, unterbrach ihn Deborah aufgewühlt und klammerte sich an seinen Arm.
    „Sicher.“ Er lächelte und legte eine Zuversicht in seine Stimme, die er selbst nicht empfand. „Hör mir jetzt zu. Die Unterlagen, die ihr fotografiert habt ... Es scheint, dass am 20. Januar dieses Jahres eine wichtige Konferenz am Berliner Wannsee stattgefunden hat. Das Protokoll hierzu befand sich in Brunnmanns Aktentasche. Es ist der erste schriftliche Beweis, dass die Deutschen die Vernichtung allen jüdischen Lebens in Europa planen. Und wir sprechen hier von Millionen Leben! Sie haben sogar die britischen Juden mit darin aufgelistet! Die Nazis bezeichnen es als Endlösung und sie haben längst mit ihrem furchtbaren Werk begonnen! Überall errichten und erweitern sie Massenvernichtungslager. Sie vergasen die Juden und verbrennen sie anschließend. Ich habe Berichte gelesen, in denen sich die umliegenden Bewohner über den permanenten Geruch von verbranntem Fleisch beschweren.
    Wir brauchen daher unbedingt das Originalprotokoll von Brunnmann. Bildabzüge allein genügen nicht. Wir müssen das echte Protokoll an uns bringen, nach London schaffen und es der polnischen Exilregierung zukommen lassen. Das Ausland wird uns sonst niemals glauben. Osman hat angeboten, Brunnmanns Aktentasche für uns zu stehlen. Aber dazu wird er deine Unterstützung brauchen. Hilfst du ihm?“
    „Natürlich. Was soll ich tun?“
    Mit raschen Worten setzte er ihr seinen Plan auseinander. Anschließend küsste er sie lange und hielt ihren zarten Körper an sich gepresst.
    Dann passierte alles rasend schnell: Die Tür wurde aufgerissen, Licht flammte auf und mehrere Männer, die Waffen im Anschlag, stürmten in den Raum. Ihnen auf dem Fuß folgte ein hoch gewachsener Mann mit Augenklappe.
    Er war es, der mit schneidender Stimme rief: „Ich will ihn lebend haben!“ Jakob hatte sich beim ersten Licht blitzschnell auf Deborah geworfen und ihr die Hände an die Kehle gelegt, als versuchte er, sie zu erwürgen. Die Zeit reichte gerade aus für ein gezischtes „Du musst die Protokolle retten. Versprich es. Rette dein Volk. Rette dich. Nur das zählt. Vergiss mich.“ Schon rissen ihn grobe Hände von Deborah weg und schleppten ihn nach draußen. Jakob wehrte sich nicht gegen sie.
    Indessen rang Deborah keuchend nach Luft; ihre ganze Umgebung schien aus einem Kreisel von Millionen tanzender Lichtpunkte zu bestehen. Jakob hatte fest zugepackt, um die Attacke möglichst echt wirken zu lassen. Deborahs Hand tastete nach ihrem Hals. Mehr jedoch als ihr Hals schmerzte sie ihr Herz. Jakob , schrie es stumm und verzweifelt.
    Der Mann mit der Augenklappe trat näher und blieb direkt vor ihrem Bett stehen. In seinem langen Ledermantel überragte er sie wie ein bedrohlicher, schwarzer Turm. Sein einziges Auge heftete sich lauernd auf ihr Gesicht und tastete darüber, als wollte er in ihren Verstand eindringen. Der Mann weckte eine Erinnerung in ihr, doch sie vermochte sie nicht zu greifen. Der Gedanke entglitt ihr wie ein flüchtiges Gespinst.
    Sie wusste nur eines: Dass er ihr eine furchtbare Angst einflößte, obwohl sie ihm nie zuvor begegnet war. Sie setzte sich seinem forschenden Starren keine Sekunde länger aus, sondern warf sich heftig zur Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Sie biss hinein, um ihre stummen Schreie zu ersticken, während sich Jakobs letzte Worte wie ein schreckliches Mantra in ihrem Kopf wiederholten: „ Vergiss mich. Vergiss mich. Vergiss mich  …
    Wie aus weiter Ferne hörte sie, dass der Fremde einem Mann in seiner Begleitung einen Befehl gab: „Ruf einen Arzt. Und dann schaff mir Brunnmann hierher.“
    Der Arzt erschien kurz darauf. Er war ein kleiner runder Mann mit einem ängstlichen

Weitere Kostenlose Bücher