Honigtot (German Edition)
wieder geben. Es kommt von der Wucht der Explosion. Ihre Trommelfelle sind beschädigt, aber ansonsten haben Sie sehr viel Glück gehabt. Eine Gehirnerschütterung und ein paar geprellte Rippen. Mehr haben sie nicht abbekommen. Sie können bald wieder aufstehen.“
Deborah hatte nur halb hingehört. Kann ich jetzt weiter schlafen, dachte sie und schloss die Augen erneut. Sie schwebte und wollte das Gefühl noch eine Weile länger auskosten. Doch ihr Verstand schüttelte die Taubheit ihres Geistes ab, schob das Wort ´Explosion` in ihr Bewusstsein, und die Erinnerung traf sie mit voller Wucht. „Marlene?“, wollte sie fragen und brachte nicht mehr als ein heiseres Keuchen zustande. Ihre Kehle brannte wie Feuer.
„Das kommt von der Rauchvergiftung“, erklärte die eine der beiden Stimmen und setzte ihr ein Glas mit wunderbar kühlem Wasser an die Lippen. Deborah nahm einige Schlucke und nickte der Spenderin dankbar zu. Es war eine kräftige, ältliche Matrone mit einer riesigen Warze am Kinn, die direkt über Deborahs Gesicht zu pendeln schien. Deborah konnte deutlich die drei borstigen schwarzen Haare erkennen, die daraus hervorsprossen.
„Marlene … meine Freundin. Was ist mit ihr?“, flüsterte sie. Von der anderen Seite des Bettes antwortete ihr Albrecht:
„Sie liegt hier gleich nebenan. Sie hat es bei dem Anschlag auf das Café weit schwerer getroffen als dich. Als man euch gefunden hat, lag sie der Länge nach auf dir. Vermutlich hat sie dich damit vor dem Schlimmsten bewahrt. Sie hat einen großen Glassplitter in den Rücken abbekommen und die Ärzte glauben nicht, dass sie jemals wieder wird laufen können. Es tut mir leid. Schlaf jetzt noch ein bisschen. Ich komme heute Abend wieder.“ Albrecht stand auf. Zum Abschied strich er ihr eine lange schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und ging.
„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte Deborah mit seltsam krächzender Stimme, die nicht die ihre zu sein schien.
„Seit gestern.“
„Kann ich meine Freundin sehen?“
„Natürlich. Aber erst morgen. Schlafen Sie jetzt.“ Sie erhielt ein paar weitere Schlucke zu trinken. Das Wasser schmeckte bitter. Die Schwester steckte mit energischen Bewegungen die Bettdecke rechts und links von ihr fest und ließ sie allein.
Deborahs Augen füllten sich mit Tränen. Arme Marlene. Erneut überkam sie bleierne Müdigkeit. Vermutlich hatte das bittere Wasser ein Schlafmittel enthalten.
Deborah schlief mehrere Stunden tief und traumlos, bis Albrecht am Abend zurückkehrte. Er brachte einen Korb mit frischem Obst, Pralinen und die gute Nachricht mit, dass der Arzt erlaubt hatte, dass Deborah das Krankenhaus schon morgen wieder verlassen durfte - vorausgesetzt, sie schonte sich danach noch einige Tage. Albrecht verabschiedete sich bald mit der Bemerkung, dass ihm Krankenhaus und Krankheiten ein Gräuel wären und er sie morgen gegen Mittag abholen würde.
Die Schwester mit der Warze betrat ihr Zimmer und Deborah entgingen nicht ihre sehnsüchtigen Blicke auf das Obst und die Pralinen.
„Sie können gerne alles haben, wenn sie mich jetzt gleich zu meiner Freundin bringen“, sagte Deborah. Die Frau strahlte sie voller Freude und Dankbarkeit an, als hätte sie ihr einen Beutel Gold versprochen, und half ihr aus dem Eisenbett.
Deborah fühlte sich ziemlich wackelig auf den Beinen und ihr war schwindelig, doch die Schwester hielt sie mit geübtem Griff fest. Nach einer Weile hörte der graue Linoleumboden auf, unter ihren Füßen zu schwanken. Geführt von der Schwester, betrat sie Marlenes Zimmer oder vielmehr den Krankensaal. Der Geruch von Erbrochenem, Urin und Schlimmerem schlug ihr entgegen.
Deborah begriff, welche Privilegien sie durch Albrechts hohe Stellung genoss.
Marlene teilte den Raum mit mindestens zwanzig anderen Frauen. In manchen Betten lagen sich sogar zwei Frauen gegenüber, die jeweils nicht besonders sauberen Füße auf dem dünnen Kopfkissen der anderen platziert. Marlene hatte immerhin das beste Bett ganz hinten in der Nähe des geschlossenen Fensters erhalten. Deborah widerstand nur schwer dem Impuls, es zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen.
Marlenes Anblick drängte dann alles andere in den Hintergrund; er erschütterte Deborah bis ins Mark. Ihre lebenslustige Freundin lag lang ausgestreckt und bewegungslos wie eine Madonna auf einer fadenscheinigen Matratze, die diese Bezeichnung kaum verdiente. Man hatte ihren Hals komplett eingegipst und ihren restlichen Körper an das Bett
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