Honigtot (German Edition)
Gesicht und dicken Brillengläsern, die seine Augen um ein Vielfaches vergrößerten. Flink tastete er Deborahs Hals ab und fühlte ihren Puls.
„Na, kleines Fräulein. Da haben Sie aber noch mal Glück gehabt“, meinte er dann und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, das gänzlich verunglückte. Deborah konnte seine Ungeduld fühlen. Vermutlich konnte er es kaum erwarten, den Raum wieder zu verlassen. Ihr erging es nicht anders. Die Gegenwart des Einäugigen strahlte eine kalte Boshaftigkeit aus, die sie am ganzen Körper frösteln und sich an einen anderen Ort wünschen ließ, nur um ihm zu entkommen.
„Ich gebe Ihnen jetzt etwas, damit Sie schön schlafen können, kleines Fräulein.“ Er zog eine Spritze auf. Deborah wollte jetzt keinesfalls schlafen, sondern sofort, nachdem die Männer verschwunden wären, zu Marlene laufen. Sie musste ihr unbedingt erzählen, was eben geschehen war. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch die Augenklappe kam ihr überraschend zuvor: „Warten Sie!“, herrschte er den Arzt an. Er trat näher an Deborah heran und schickte sodann den Mann mit einer gebieterischen Kopfbewegung hinaus. Dessen hastiger Abgang glich dem einer Flucht.
Deborah wünschte sich nichts sehnlicher, als allein gelassen zu werden. Wann ging die Augenklappe? Sie hasste ihn, weil er ihr Jakob entrissen hatte. Sie wollte ihre Lippen berühren, auf denen sie noch Jakobs Kuss schmecken konnte. Wohin brachte man Jakob? Was würde mit ihm geschehen? Sie hielt den Gedanken mitten in der Entstehung auf, weil sie ihn nicht zu Ende führen wollte. Sie brauchte ihre gesamten Sinne, denn wieder spürte sie das grausame Auge auf sich gerichtet.
Ohne hinzusehen, ließ der Mann mit einer lässigen Geste seinen langen schwarzen Ledermantel von den Schultern gleiten. Einer seiner jungen Begleiter fing ihn sofort geschickt auf, ein zweiter beeilte sich, ihm den Stuhl zurechtzurücken. Das klapprige Teil ächzte unter seinem Gewicht. Es nahm der nonchalanten Dreier-Choreographie, die oftmaliges Zusammenspiel verriet, etwas von seiner Eleganz.
Wer war dieser Mann?, fragte sich Deborah nicht zum ersten Mal. Er verursachte ihr mehr als nur Angst, und der schale Geschmack der Furcht drohte sie zu überwältigen. Worauf wartete er? Warum sagte er nichts und starrte sie lediglich an, als wüsste er alles über sie? Reiß dich jetzt zusammen, ermahnte sie sich selbst. Spiel das Dummchen, so wie Marlene gesagt hat. Das ist deine einzige Chance. Sie tat ihren ersten Zug.
„Danke“, flüsterte sie und musste nicht leidender klingen, als sie sich sowieso fühlte.
Eine Augenbraue fuhr kaum merklich nach oben. Ansonsten zeigte das fahle Gesicht des Mannes nicht die Spur einer Regung.
Eine lange Pause folgte. Du bist dran, dachte Deborah und schenkte dem Mann ein zaghaftes Lächeln. Aus ihrer Sicht war er schließlich ihr Retter, also musste sie sich auch entsprechend verhalten.
„Was wollte Jakob Wanda von Ihnen?“, schoss er endlich die erste Frage auf sie ab. Nur mit äußerster Bühnendisziplin gelang es ihr, ihr Erschrecken darüber zu verbergen, dass er Jakobs richtigen Namen kannte.
„Bitte?“, fragte sie mit verwirrter Miene. „Er hat sich nicht die Mühe gemacht, sich vorzustellen, ehe er versucht hat, mich umzubringen. Sind Sie von der Polizei?“ Ihre Hand glitt an ihren Hals, um ihr Gegenüber daran zu erinnern, dass sie eben erst einem Mordanschlag entronnen war. Ihre Kehle brannte wie Feuer.
„Sie geben also hiermit zu, dass Sie seinen Namen kennen?“
„Nein, das habe ich doch gerade gesagt! Der Mann war mir völlig unbekannt. Sie haben doch den Namen genannt!“
„Sie behaupten also, Sie hätten ihn nie zuvor gesehen?“
Warum behandelt der Mann mich wie eine Täterin und nicht wie ein Opfer? , fragte sich Deborah. Zu ihrer Angst gesellte sich Verunsicherung. Plötzlich glaubte sie Marlenes mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf zu hören, die ihr zuraunte: Niemals richtig festlegen!
Sie antwortete daher: „Ich denke nicht, dass ich ihn je zuvor gesehen habe. Es war dunkel im Zimmer, bis Sie kamen, und dann haben Sie ihn gleich von mir weggerissen.“ Sie fasste sich abermals an den Hals und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Könnte ich etwas Wasser haben, bitte?“
Ein kaum wahrnehmbares Nicken des Einäugigen und der junge Mann, der den Stuhl herangerückt hatte, reichte Deborah sofort ein Glas Wasser.
Sie unterstrich ihre Hilfsbedürftigkeit, indem sie sich von ihm ihren Kopf
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