Honigtot (German Edition)
betrachtete ihr schlafendes Gesicht und studierte die blauen Male an ihrem Hals. Dann eilte er in sein Hotel zurück und vergewisserte sich, dass die wertvollen Dokumente seiner Aktentasche wohlverwahrt im Safe seines Zimmers ruhten.
Kapitel 4 6
Deborah erwachte am Morgen aus den grauen Schleiern wirrer Träume. Sie war allein. Ihr gesamter Körper schmerzte und einige Minuten lang versuchte sie vergeblich, ihre vernebelten Gedanken in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es war, als widerstrebte es ihr, sich überhaupt zu besinnen.
Doch sie konnte dem Erlebten nicht entrinnen und die Wucht der Erinnerung traf sie umso heftiger, da sie versucht hatte, sie zu verdrängen.
Jakob , schluchzte sie hemmungslos und minutenlang gab sie sich ihrem Kummer hin. Sein Bild, wie er hilflos und gefesselt diesem schwarzen SS-Teufel ausgeliefert war, stieg vor ihrem inneren Auge auf und die Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu.
Der Gedanke an Rache formte sich in ihr. Sie richtete sich auf und trocknete ihre Tränen. Sie würden Jakob nichts nutzen, doch sie selbst fühlte sich gestärkt. Sie stand auf und ignorierte die Schwächesignale ihres Körpers. Sie wollte zu Marlene. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass Marlene, die sich niemals unterkriegen ließ, Rat wüsste und dass sie gemeinsam einen Plan entwerfen würden.
Das Krankenhaus war längst erwacht und auf den Fluren herrschte Betriebsamkeit. Überall an den Wänden standen behelfsmäßige Betten, in denen meist gleich zwei Kranke untergebracht waren, oder zu mehreren darauf saßen. Stöhnen und Wehklagen begleiteten Deborah auf ihrem Weg zu Marlene.
Ferngesteuert schritt Deborah an den Elenden vorüber, deren Mienen starr oder von Schmerzen verzerrt waren, ihr ganzes Sein war allein auf Jakob und seine Rettung gerichtet. Sie betrat den Krankensaal und erstarrte: Das Bett, in dem gestern noch Marlene gelegen hatte, war von zwei fremden Frauen belegt, die beide im Delirium schienen. Keine der beiden reagierte auf Deborahs Frage nach der blonden deutschen Dame. Ihre Augen irrten verzweifelt umher auf der vergeblichen Suche nach Marlene.
„Sie haben sie in der Nacht abgeholt, Fräulein“, raunte eine Stimme in ihrem Rücken. Deborah wandte sich um. Eine alte Frau mit grauem, strähnigem Haar richtete sich mühsam in ihrem Bett auf. Sie hatte eine riesige, violett schimmernde Geschwulst auf der Wange und ihre Augen glänzten vom Fieber.
In der Hoffnung, etwas über den Verbleib von Marlene zu erfahren, näherte sich ihr Deborah. „Was sagen Sie da? Abgeholt? Wer hat sie abgeholt?“
Die alte Hand mit den von Rheuma geschwollenen Gelenken klammerte sich wie eine Klaue an ihren Arm: „Der schwarze Mann hat sie geholt, es war der schwarze Mann und er hatte nur ein Auge!“ Sie kicherte wie irre.
Von Panik erfasst, rannte Deborah zurück in ihr Zimmer. Schlagartig hatte sie begriffen, wovon sich ihre unerklärliche Angst gegen den Mann mit der Augenklappe von der ersten Sekunde an genährt hatte: Natürlich, der Name! Albrecht hatte ihn Greiff genannt! Marlene hatte ihr gestern im Hotel den gleichen Namen genannt. Er war es, Hubertus von Greiff, Marlenes Todfeind! Und jetzt hatte er ihre Freundin erneut in seine Gewalt gebracht.
Minutenlang lief Deborah wie ein kopfloses Huhn durch das Krankenzimmer. Denk nach, denk nach! Sie umklammerte mit beiden Händen ihre Schläfen, als könnte sie dadurch den Denkprozess beschleunigen. Dann blieb sie abrupt stehen. Kämpferisch hob sie ihr Kinn. Albrecht! Sie musste mit Albrecht sprechen. Er war Greiffs Feind. Vielleicht konnte sie daraus Kapital schlagen. Ungeduldig läutete sie nach der Schwester, damit sie ihr ein Taxi rief.
Die Tür öffnete sich, doch es war nicht die Schwester, sondern Osman, der im Türrahmen erschien. Er hatte eine von Deborahs Reisetaschen dabei. Mit ausgestreckten Händen ging sie ihm entgegen. „Osman, du ahnst nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen.“
Der Chauffeur sank vor ihr auf ein Knie, nahm ihre rechte Hand und drückte sie erneut mit einer unnachahmlich ergebenen Geste an seine Stirn. Deborah fasste ihn an den Schultern und hob ihn auf. „Nicht doch, Osman, du machst mich ganz verlegen. Komm, unterhalten wir uns.“
Mit einer Geste bedeutete sie ihm auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich auf das Bett. „Osman, ich …“
Doch Osman unterbrach sie, indem er den Zeigefinger an seine Lippen legte und zur Tür zurückflitzte. Er
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