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Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Münzer
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Kalender auf. Marlene konnte nur an eines denken: Hoffentlich sieht er ihn nicht und nimmt ihn mir weg!
    Der Soldat hielt einen Brief in der Hand. „Marlene Kalten?“
    Ihr lag als Antwort eine freche Bemerkung auf der Zunge, aber sie schloss nur die Augen und öffnete sie wieder, als Zeichen der Zustimmung. Sie hatte gelernt, in ihrer Lage nicht zu provozieren. Schon einmal, im ersten Monat hier, hatte sie Besuch von einem SS-Polizisten erhalten und ihn verhöhnt - in der Hoffnung, er würde sie dann vielleicht erschießen. Stattdessen hatte er einen Nachttopf über ihren Kopf ausgeleert und die Schwester hatte dann das Nachsehen mit der Bescherung gehabt.
    Der Mann wedelte mit dem Papier. „Nachricht aus Berlin. Dein Großvater ist im Gefängnis gestorben.“
    „Mein Großvater ist im Gefängnis gestorben?“, wiederholte Marlene schockiert und mehr zu sich selbst. Sie weigerte sich, das zu glauben.
    „Sagte ich doch gerade. Deine staatsfeindlichen Umtriebe hatten Konsequenzen. Dein Großvater wurde enteignet. Dabei hat er einen Beamten angegriffen.“
    „Was ist mit meiner Großmutter?“, fragte Marlene.
    „Was geht mich deine Großmutter an?“, blaffte er zurück. Er warf den Umschlag auf das Bett und ging. Die Tür zog er hinter sich zu. Marlene lag wieder im Dunkeln.
    Viele Stunden vergingen, in denen Marlene mit den Dämonen ihres Geistes alleine blieb. Der Brief lag irgendwo auf der Decke. Sie bildete sich ein, sein Gewicht tonnenschwer auf sich spüren zu können. Die Nachricht vom Tod ihres Großvaters hatte sie schwer getroffen. Was war mit ihrer Großmutter geschehen? Stammte der Brief von ihr? Und wenn ihr Großvater enteignet worden war, dann hatte sie bestimmt ihr Stadthaus Unter den Linden verlassen müssen. Es war dieses Nicht-Wissen, das Marlene wahnsinnig machte, dazu gesellten sich ihre Schuldgefühle. Greiff hatte das natürlich gewusst. Doch ein neuer Gedanke keimte in ihr auf: Und wenn es gar nicht stimmte? Wenn Greiff sie damit nur treffen wollte? Sie mit einer erfundenen Todesnachricht noch mehr demoralisieren wollte? Vermutlich konnte er sich denken, dass sie von dem schwindenden Kriegsglück der Deutschen irgendwie erfahren hatte und er wollte ihr damit jede Hoffnung nehmen, dass ihr Großvater ihr helfen würde. Eine solch perfide Vorgehensweise sähe Hubertus von Greiff ähnlich. Er beherrschte das Spiel, wie man Menschen nicht nur physisch, sondern vor allem psychisch zu Grunde richtete, in Perfektion. Und seine teuflische Saat ging auf: Marlene marterte sich selbst mit ihren Grübeleien, drehte sich beständig und ergebnislos im Kreis, bis der Schmerz einer Migräne in ihrem Kopf hämmerte und sie das Gefühl hatte, er würde platzen.
    Irgendwann spürte sie, dass sie etwas kitzelte. Sie brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass es die Spinne sein musste. Noch länger brauchte sie, bis sie verstand, dass es nicht ihr Gesicht war, das kitzelte, sondern ihr Fuß. Mein Fuß? Wie kann mein Fuß kitzeln? Sie musste es sich einbilden, vermutlich träumte sie das nur. Oder sie verlor doch endlich ihren Verstand …
    In diesem Moment öffnete sich die Tür und mit dem Arzt kam Licht herein. Marlene sah ihren Fuß, die Spinne saß direkt auf ihrem Zeh und schien sie anzustarren.
    Der Arzt kam näher. „Guten Abend, Marlene! Wie geht es dir? Ich habe gerade gehört, du hattest heute Besuch?“
    „Endlich, Doktor Hondl. Schnell, da auf dem Bett liegt ein Brief. Bitte lesen Sie ihn mir vor.“
    Er nahm ihn auf und erblickte gleichzeitig die Spinne auf Marlenes Fuß. „Puh, was für ein hässliches Ding!“ Er wollte sie von ihrem Fuß wischen, aber Marlene rief: „Nein, lassen Sie sie, bitte. Ich mag sie. Sie leistet mir Gesellschaft.“
    Doktor Hondl sah sie kurz an, dann lächelte er, sagte aber nichts dazu. Er zog den Hocker unter dem Bett heraus, den er dort für sich deponiert hatte und setzte sich an das Fußende, damit Marlene ihn sehen konnte.
    Dann zog er den Brief aus dem Umschlag. „Zeigen Sie mir zuerst die Schrift!“, bat Marlene. Der Arzt hob den Brief auf Höhe ihrer Augen. Marlene durchfuhr es siedend heiß, als sie die Schrift ihrer Großmutter erkannte. „Bitte …“, sagte sie schwach.
    Der Brief enthielt tatsächlich die Todesnachricht. Es war also wahr, ihr Großvater war tot. Und ihre Großmutter war inzwischen zu Verwandten gezogen. Kein Wort über den Verlust ihres Besitzes . Ihre Großmutter war eine noble Frau.
    „Es tut mir sehr leid“, sagte der

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