Honigtot (German Edition)
Otto-was-weiß-ich unterwegs. Vor die Suite hat er so einen doofen Zinnsoldat gestellt. Ich bin durch das Fenster ausgebüxt.“ Deborah freute sich sichtlich über ihren Streich.
„Albrecht hat dich im Parterre untergebracht?“, fragte Marlene ungläubig.
„Nein, im zweiten Stock, aber ich habe mir die Fassade angesehen. Das ist eine alte Burg mit vielen Mauervorsprüngen. Ein Kinderspiel. Ich habe es extra zweimal vorher ausprobiert. Ich konnte auch wieder ganz leicht zurückklettern. Heute habe ich Osman eingeweiht, was ich vorhabe. Er hat mich unten erwartet und hergefahren. Jetzt erzähl, wie ist es dir ergangen?“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich liege hier den ganzen Tag und wünsche mir vergebens, entweder zu sterben oder verrückt zu werden. Meine einzige Freundin ist eine Spinne gewesen, die sich aber schon seit einer Weile verkrümelt hat. Osman?“, wandte sie sich an diesen. „Könntest du bitte die Türe schließen und aufpassen, dass niemand kommt?“
Osman nickte. Sobald er die Tür geschlossen hatte, rief Marlene: „Schnell, Deborah. Hilf mir, ich will versuchen aufzustehen.“
„Was?“ Deborah sah aus, als hätte sie sich verhört.
„Es passierte im Frühjahr, plötzlich spürte ich ein Kitzeln am Zeh. Es war die Spinne! Sie ist über meinen Fuß gekrabbelt. So hat es angefangen. Inzwischen habe ich immer mehr Gefühl in meinem Körper, aber noch zu wenig Muskeln. Trotzdem möchte ich endlich wieder Boden unter meinen Füßen spüren. Es ist so lange her. Los, komm!“ Marlene schob mühsam und mit zusammengepressten Lippen ihre Beine über die Bettkante, so dass sie etwas über dem Boden baumelten.
„Aber, das ist ja großartig. Vielleicht kannst du bald wieder laufen!“, freute sich Deborah. Sie legte ihren Arm unter Marlenes Schulter und stützte sie. Vorsichtig ließ sich Marlene von der Kante gleiten. Zum ersten Mal seit über achtzehn Monaten berührten ihre Füße den Boden. Es war ein überwältigendes, nicht mehr erwartetes Gefühl. Sie verlagerte jetzt ihr gesamtes Gewicht auf ihre Beine, löste sich halb von Deborah. Aber ihre Beine waren zu schwach, um sie zu tragen. Bevor sie einknickte, ließ sie sich wieder auf das Bett fallen. Es war ein Anfang! Wenn sie nur jemanden hätte, mit dem sie üben könnte!
„Du musst üben!“, sagte Deborah in diesem Moment.
„Ja, aber das geht nicht allein. Mir würden schon ein paar Krücken reichen.“
„Die besorge ich dir. Ist doch ein Krankenhaus hier, oder?“
„Und wie soll ich die hier drin verstecken, du Schlaumeier?“
„Ich besteche die Schwester, Geld und Schmuck habe ich genug.“
Marlene war nicht überzeugt. Sie dachte an den Arzt und ob sie sich ihm nicht vielleicht doch anvertrauen sollte? Ihr Verhältnis war inzwischen noch enger geworden. So wie Deborah für Osman wie eine Tochter war, schien sie es für Doktor Hondl geworden zu sein. Er hatte bereits zwei Briefe an ihre Großmutter für sie geschrieben und versandt. Sie hatte sie an die Adresse in Brandenburg geschickt, die ihre Großmutter in ihrem Brief genannt hatte. Ob sie angekommen waren, wusste sie nicht. Sie hatte keine Antwort erhalten. Vermutlich hatte Greiff sie sowieso abgefangen. Wenn, dann wusste er entweder nicht, dass ihr Doktor Hondl beim Verfassen geholfen hatte, oder er erhoffte sich weitere Briefe, aus denen er etwas für ihn Verwertbares ziehen konnte.
„Wie steht es mit dem Krieg?“, fragte sie jetzt.
„Nicht gut. Leopold sagt, der Endsieg ist nicht in Sicht“, meinte Deborah achselzuckend. „Es gibt jetzt auch immer mehr Luftangriffe der Briten auf die Städte und in München hat es viele Flüchtlinge. Leopold sagt, bald werden uns auch die Amerikaner bombardieren und dann geht es erst richtig los.“
„Wer ist Leopold?“
„Albrechts älterer Bruder. Er ist Priester. Er besucht uns ab und zu. Aber die zwei sind sich nicht grün. Ich glaube, Leopold schmuggelt Juden. Es würde zu ihm passen. Albrecht macht immer die Dinge, die Leopold nicht gefallen, und umgekehrt ist das genauso. Aber Leopold erzählt natürlich nichts darüber. Ich vermute das nur, weil Albrecht ein paar komische Andeutungen gemacht hat.“
„Klingt interessant, dieser Bruder. Scheint, als hättest du dir den falschen Bruder ausgesucht.“
„Leopold ist Priester, da gibt es nichts auszusuchen. Aber ich mag ihn sehr.“
„Übrigens, das war ganz schön mutig von dir, dass du Greiff angegriffen hast. Ich weiß es von Osman.“
Deborah
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