Honigtot (German Edition)
wahrscheinlich ist sie irre geworden. Wäre nicht das erste Mal hier unten. Was wollen Sie?“
„Wir sollen sie zurück ins Krankenhaus bringen. Greiff will, dass sie so lange wie möglich lebt.“
„Komisch“, meinte der Wärter. „Sonst ist es immer umgekehrt.“
Doch Marlene hatte begriffen. Es war gehässig und perfide. Greiff wollte, dass sie weiterlebte, damit die Bilder von Jakobs Qualen sie weiter verfolgten. Und sie wünschte sich, dass, wenn sie schon nicht sterben konnte, tatsächlich verrückt wurde.
Aufgewühlt folgte Deborah dem Wärter nach draußen. Ihr war übel, weniger von dem Gestank, der sie wie eine dichte Wolke umhüllte. Nein, es war die Schlechtigkeit der Welt, die ihr den Magen umdrehte. Sie hatte in die Fratze der Realität geblickt, das Gesicht der Welt da draußen, außerhalb des schönen Scheins, der sie geblendet hatte. Aber die wirkliche Welt hörte keine Arien und nippte nicht am Champagner, die wirkliche Welt litt Not, die Menschen starben – getötet im Krieg oder ermordet von jenen, die den Krieg angezettelt hatten.
Laut Jakob stand im Wannsee-Protokoll, dass die Nazis planten, alle Juden zu töten. Millionen von Juden. Weil sie nach der Definition der Herrenrasse Untermenschen waren, des Lebens nicht würdig. Marlene war Halbjüdin und ihr blieb nichts als der Tod, um ihnen zu entkommen.
Sie würde Marlene rächen! Ihr Tod sollte nicht ohne Preis sein für jene, die ihn zu verantworten hatten! Sie würde Albrecht das Protokoll stehlen, damit die ganze Welt von den verabscheuungswürdigen Vernichtungsplänen der Nazis erfuhr. Hitler und seine Helfer waren das personifizierte Böse, sie waren die Apokalypse!
Deborah trat auf den Hof hinaus. Geblendet vom hellen Tageslicht blinzelte sie die Dunkelheit des Gefängnisses fort.
Sie gewahrte Greiff. Er stand mitten im Hof, umgeben von zwei seiner blonden Jünger. In seinem schwarzen Ledermantel wirkte er auf sie wie der leibhaftige Teufel. Die Bösartigkeit seines Lächelns ließ Deborah trotz der warmen Sonne frösteln. Schweigend wies er mit dem Kopf zur Seite.
Deborah folgte seinem Blick zu einem Galgen in der Ecke des Hofes und ihr Herz setzte aus.
Der Leichnam eines großen Mannes hing daran. Er war auf entsetzliche Weise verstümmelt, doch trotz der entstellten Züge, deren leere Augenhöhlen blicklos ins Nichts starrten, erkannte Deborah ihn in der Sekunde, in der sie ihn sah.
Jakob .
Etwas in ihr zerriss. Sie fiel auf die Knie und schrie und schrie und schrie.
Kapitel 4 7
KRAKAU/ Krankenhaus Na Bulovce, im März 1943
Marlene erwachte. Es war kein richtiges Erwachen. Sie öffnete nur ihre Augen. Seit neun Monaten dämmerte sie vor sich hin. Für sie gab es weder Tag noch Nacht.
Es gab nur die Zeit, endlose Zeit, in der sie bewegungslos dalag, ihren Körper verfallen sah und nur ihre Gedanken wandern konnten. Weder war sie verrückt geworden noch gestorben. Ihr Geist und ihr Körper entzogen sich ihrem Willen. Es gab Tage, da resignierte sie einfach, fiel in eine schwere Depression und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte – endlos verfolgt von den Bildern des zu Tode gequälten Jakob. Dann konnte sie wieder den letzten Blick aus Jakobs verbliebenem Auge spüren, der ihr gegolten hatte, und sah erneut das stumme Flehen darin, Greiff nichts zu verraten.
An anderen Tagen überkamen sie Hass und hilflose Wut, ihre Gedanken tobten und drehten sich ausschließlich darum, wie sie Greiff töten würde. Alles umsonst, sie konnte nichts tun, noch nicht einmal sterben. Greiffs Sieg war vollkommen.
Sie lag allein, isoliert von den anderen Patienten. Ihr Zimmer war eine fensterlose Abstellkammer, kaum vier Quadratmeter groß. Marlene nannte es ihren Sarg. Ihr einziger Lichtblick war ein älterer Arzt, der sie, wann immer es seine Zeit erlaubte, besuchen kam. Er sprach dann in einem betont munteren Tonfall mit ihr, als wäre sie ein kleines Kind, oder er las ihr vor. Angeblich, weil Marlene ihn an seine früh verstorbene Tochter erinnerte. In den ersten Wochen hatte Marlene nicht auf ihn reagiert, sie wollte einfach nur in Ruhe sterben. Aber er ließ nicht locker, ignorierte ihr Schweigen und ihre stummen Blicke, sie in Frieden zu lassen. Er kümmerte sich darum, dass sie gut versorgt wurde und regelmäßig gewendet, damit sie sich nicht wundlag, dass sie ein zusätzliches Kissen bekam, so dass sie erhöht liegen konnte und vor allem, dass sie ausreichend zu essen bekam. Manchmal
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