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Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Münzer
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fütterte er sie auch selbst.
    In den ersten Tagen hatte Marlene die Nahrungsaufnahme verweigert, in der Hoffnung, auf diese Weise sterben zu können. Aber man hatte sie darauf zwangsernährt und der Arzt hatte ihr zugeflüstert, dass „dieser Greiff von der Gestapo“ regelmäßig Bericht über sie einholte und man der ganzen Station drakonische Strafen angedroht hatte, sollte sie sterben. Irgendwann hatte sich Marlene gefügt. Unnötig, dass das Krankenhauspersonal durch sie den Zorn von Greiff auf sich zog.
    Heute Morgen erst hatte man sie gewendet und sie lag nun auf dem Rücken. Die Tür zu ihrem Zimmer stand immer offen. Auch das hatte ihr Wohltäter angeordnet, so dass Marlene wenigstens über etwas Licht aus dem Flur verfügte. Licht in ihrem Zimmer hatte Greiff verboten. Das wusste sie von dem fürsorglichen Arzt. Sie sollte im Dunklen vegetieren.
    Marlenes Augen suchten die Decke über ihr ab. Da war sie! Seit ein paar Wochen hing eine Spinne über ihrem Bett. Manchmal verschwand sie für Stunden, oder sogar für mehrere Tage, aber bisher war sie immer zurückgekehrt. Ab und zu seilte sie sich auch ab und spazierte über Marlenes Bett, gestern sogar erstmalig über ihr Gesicht. Es hatte gekitzelt. Es war ein gutes Gefühl gewesen, dass wenigstens ein Teil von ihr noch eine Berührung empfinden konnte.
    Die Spinne war braun, mit dickem Leib und behaarten Beinen. Marlene fand sie wunderschön und hatte Freundschaft mit ihr geschlossen. Wenn sie auf dem Rücken lag und sie sehen konnte, unterhielt sie sich mit ihr. Momentan saß das Tier reglos in seinem Netz, neben einer erbeuteten Fliege. „Na, meine Dicke? Hast du wieder etwas gefangen?“ Die Spinne rührte sich nicht. Marlene sprach weiter mit ihr, erzählte ihr von den Rollen, die sie im Schultheater gespielt hatte, und rezitierte aus Romeo und Julia. Sie konnte immer noch den gesamten Text. Wenn sie schon nicht verrückt werden konnte, dann wollte sie wenigstens nicht geistig verkümmern. Wären Hitler und der Nationalsozialismus nicht dazwischengekommen, dann wäre sie sicher Schauspielerin geworden. Sie hatte lange nicht mehr an ihre früheren Zukunftspläne gedacht.
    Tatsächlich waren ihre Lebensgeister erst in den letzten Tagen wieder etwas erwacht, das heißt, zum ersten Mal seit langem drehen sich ihre Gedanken wieder um die Außenwelt, anstatt sich in der Vergangenheit zu verlieren oder in unrealistischen Racheplänen zu schwelgen.
    Das lag nicht an ihrer Freundin, der Spinne, sondern daran, dass ihr Arzt, Doktor Hondl, sich ein Herz gefasst und ihr trotz Greiffs Verbot einiges erzählt hatte. Marlenes Leben hatte sich bisher vollkommen abgeschottet abgespielt, nichts, was in der Welt draußen geschah, war bisher in ihr winziges Zimmer vorgedrungen.
    Die Ereignisse lagen zwar schon einige Zeit zurück, nichtsdestotrotz hatte Marlene sich über sie gefreut. Mit dem Nazi-Regime schien es erstmalig abwärts zu gehen. Der jüdische Widerstand hatte in Prag auf Reinhard Heydrich, den dritten Mann im Staat und Hitlers Mann für die Endlösung, ein erfolgreiches Attentat verübt - denn Heydrich war wenige Tage später doch seinen Verletzungen erlegen - und im November 1942 hatten die Amerikaner erstmals aktiv und siegreich gegen Deutschland und seinen Verbündeten Italien in Nordafrika eingegriffen. Die Briten kämpften nicht mehr allein.
    Anfang 1943 hatten die Deutschen dann eine weitere, empfindliche Niederlage in Stalingrad gegen die Sowjetunion erlitten! Die Möglichkeit, dass das Deutsche Reich den Krieg, den es angezettelt hatte, verlieren könnte, war erstmalig greifbar geworden. Marlene hatte festgestellt, dass sie noch nicht völlig abgestumpft war, sondern sich darüber hatte freuen können.
    Sie fixierte jetzt die Wand gegenüber, an der ein kleiner Abreißkalender hing. Noch ein Luxus, über den sie seit kurzem und ebenfalls dank Doktor Hondl verfügte. 19. April 1943. Der Beginn der jüdischen Festwoche Pessach. Und sie sah ihren großen Zeh, der unter der Decke hervorschaute. Er zielte wie eine Kimme genau auf den Kalender. Die Schwester hatte die Decke nicht ganz über ihren Fuß gezogen. Die Decke war sowieso überflüssig, sie konnte weder Wärme noch Kälte spüren. Dafür verbarg sie ihren erschreckend mageren Körper mit seinen verkümmerten Muskeln.
    Plötzlich hörte Marlene rasch näherkommende Schritte auf dem Flur. Stiefel. Schon marschierte ein SS-Polizist forsch herein und baute sich in ihrem Blickfeld, direkt vor dem

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