Honigtot (German Edition)
Arzt und strich ihr tröstend über die Wange. Zum ersten Mal seit langem wieder weinte Marlene.
Doktor Hondl zögerte kurz, schien sich aber dann ein Herz zu fassen. „Wenn Sie möchten, wäre ich bereit, für Sie einen Brief zu schreiben.“ Marlene hatte ihn früher mehrmals darum gebeten, aber er hatte sich bisher wegen Greiffs Drohung immer geweigert.
Marlene sah ihn an. Sie begriff, dass sie sich geirrt hatte. Erst jetzt war Greiffs Sieg vollkommen und endgültig. Er hatte jeden getötet oder vernichtet, der ihr je etwas bedeutet hatte. Wem konnte sie noch schreiben, außer ihrer Großmutter?
Ihre Verwandten mütterlicherseits waren bereits im April 1940 aus Krakau deportiert worden. Nicht einmal über Jakobs gute Kontakte war zu erfahren gewesen, wohin man sie gebracht hatte. Sie waren spurlos verschwunden. Marlene vermutete, dass Greiff auch damals schon seine Finger im Spiel gehabt hatte. Dann fiel ihr Deborah ein. Sie hatte lange nicht mehr an das Mädchen gedacht. Was war aus ihr geworden? Hatten sie und dieser Osman es geschafft, Brunnmann das Protokoll zu stehlen und nach London zu schmuggeln? Plötzlich war ihr Interesse daran neu erwacht. Seit Jakobs Tod waren neun Monate vergangen. Brunnmanns Aufgaben führten ihn immer wieder ins Generalgouvernement, der Aufenthalt vor neun Monaten war nicht sein erster gewesen. Was wäre, wenn sie den Arzt bitten würde, im Grand Hotel nachzuforschen, ob der Obersturmbannführer sich dort aufhielt?
„Ich hätte tatsächlich eine Bitte. Erinnern Sie sich an meine junge Freundin, die hier nach dem Bombenanschlag gemeinsam mit mir eingeliefert wurde? Die Freundin des Obersturmbannführers Brunnmann?“
Der Arzt nickte kaum merklich.
„Ich würde gerne erfahren, ob sie wieder in Krakau ist. Wenn, dann ist sie im Grand Hotel in der Slawkowskaja abgestiegen. Vielleicht könnten Sie sich dort einmal dezent nach ihr erkundigen?“
Sie sah, dass sie ihn mit ihrer Bitte überfordert hatte. Einen Brief zu schreiben und heimlich abzusenden war eine Sache. Sich in ein öffentliches Hotel zu begeben und nach der Freundin eines hochrangigen SS-Offiziers zu erkundigen, eine andere. Marlene überlegte, wie sie ihn überzeugen konnte, als ihr etwas einfiel. „Ich habe eine bessere Idee. Erkundigen Sie sich dort nach einem Osman. Das ist Brunnmanns Chauffeur. Sie können sich ja als Mechaniker ausgeben, das wäre unverfänglich. Nicht wundern, Osman ist stumm. Wenn sie ihn Osman sehen, sagen Sie ihm einfach, wo Deborah mich finden kann. Würden Sie das für mich tun?“
„Also gut, ich tue es. Aber es geht frühestens in ein paar Tagen.“
„Keine Sorge, ich habe viel Zeit und laufe Ihnen nicht weg.“ Marlene lächelte den Älteren zaghaft an. „Und ein Brief an meine Großmutter wäre sehr schön.“
„Natürlich. Ich komme später mit Briefpapier zurück. Jetzt muss ich nach meinen anderen Patienten sehen.“ Er drückte ihr die Hand und ging.
Merkwürdig, dachte Marlene. Sie hatte sich eingebildet, dass sie seine Hand hatte spüren können. Langsam wurde es ihr unheimlich. Litt sie an Wahrnehmungsstörungen? Sie wollte es jetzt wissen. Ihre Augen suchten die Spinne. Das Tier saß nach wie vor regungslos auf ihrem Zeh. „Komm, beweg dich, meine Dicke, kitzel mich ein bisschen.“
Tatsächlich stellte sich in den kommenden Tagen heraus, dass Marlene sich nicht geirrt hatte. Immer öfter verspürte sie jetzt an den verschiedensten Stellen ihres Körpers ein Kribbeln. Sie war sich jetzt sicher, das Gefühl kehrte in ihren Körper zurück! Langsam, aber nicht mehr zu leugnen. Wie konnte das sein? Sie glaubte nicht an Wunder, doch nach wenigen Tagen konnte sie bereits ganz leicht ihren rechten Zeigefinger bewegen. Vermutlich hätte sie noch mehr zustande gebracht, aber sie hatte keine Muskeln und dadurch keine Kraft mehr.
Doktor Hondl brachte nach einigen Tagen eine weitere gute Nachricht. Er hatte sich beim Portier nach Osman erkundigt und dabei erfahren, dass der Chauffeur zwar derzeit nicht anwesend wäre, aber da der Obersturmbannführer dem Haus in wenigen Tagen erneut die Ehre gäbe, er sicher wie immer gemeinsam mit seinem Dienstherrn eintreffen würde . Über Deborah hatte der Arzt nichts erfahren, er hatte sich auch nicht getraut, sich nach ihr zu erkundigen. Aber er versprach Marlene, in einer Woche erneut für sie nachzufragen.
Marlene hatte inzwischen begonnen, ihre Muskeln täglich stundenlang zu trainieren. Sobald sie irgendwo ein Gefühl
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