Honigtot (German Edition)
wirkte plötzlich ernst und ihre Augen sehr traurig. „Ich habe Jakob im Hof hängen sehen, total verstümmelt und Greiff hat nur gelacht. Gelacht! Dieser Teufel! Er wollte, dass ich Jakob so sehe und hat extra auf mich gewartet. Da ging es mit mir durch. Osman hat es verhindert. Ich war danach ganz schön fertig und wollte mich umbringen. Hier …“, Deborah rollte die Ärmel ihres Pullovers hoch und zeigte Marlene die Narben an ihren Pulsadern. „Osman hat mich gerettet. Er hat mir einen Zettel in die Hand gedrückt auf dem stand: Du musst leben. Für Rache. Er hat Recht. Ich lebe für die Rache. Eines Tages werde ich Albrecht und Greiff töten. Das schwöre ich!“
„Nein“, sagte Marlene hart. „Greiff gehört mir!“
Eine winzige Pause entstand. Marlene sah, dass Deborah schon den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, es sich dann aber anders überlegte und ihn wieder schloss. Aber ihr Schweigen war genauso beredt wie das, was Marlene in ihren Augen lesen konnte: Wie willst du das schaffen? Du kannst ja noch nicht einmal von alleine stehen!
Deborah strich sich jetzt verlegen über ihre Unterarme. Marlene folgte ihren Bewegungen. Sie hatte sich erschrocken, als sie sie gesehen hatte. Weniger wegen der vernarbten Handgelenke, sondern aufgrund der vielen frischen Schnitte. Das grenzte ja fast schon an Selbstzerfleischung. Auch die Fingernägel des Mädchens waren bis auf das wunde Fleisch abgenagt. Für Marlene sah es fast so aus, als würde sich Deborah selbst zerstören wollen, weil sie ihr Leben nur so ertragen konnte. Marlene fand daher auch Deborahs Munterkeit reichlich aufgesetzt. Dass sie sich freute, Marlene zu sehen, nahm sie ihr ja noch ab, aber nicht den Rest. Deborah spielte immer noch eine Rolle. So, wie sie Brunnmann die Reumütige vorspielte, spielte sie jetzt das normale junge Mädchen. Sie war wirklich eine gute Schauspielerin. Aber Marlene hatte den Abgrund in ihren Augen entdeckt. „Deine Arme sehen schrecklich aus“, sagte sie jetzt. „Musst du dir das wirklich antun?“
Deborah zog die Pulloverärmel mit einer energischen Bewegung herab. „Ja, es tut mir gut. So wie sich andere offenbar betrinken müssen, muss ich mich schneiden. Außerdem heilt es ja immer wieder. Leopold wollte mich deswegen auch schon zum Arzt schicken, aber ich will nicht. Ich verstehe nicht, warum das alle so schlimm finden. Sogar mein Bruder schimpft mich und hat es Leopold erzählt. Die kleine Petze. Wem schadet es schon?“, sagte sie trotzig. Warum hackten alle immer auf den paar Schnitten rum?
„Es schadet dir , Deborah.“
„Es sind doch nur ein paar Schnitte. Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Aber sag, wie kommt es, dass du überhaupt hier bist?“
Marlene lachte trocken auf. „Eigentlich willst du doch wissen, warum ich nicht genauso tot bin wie Jakob. Die Antwort ist einfach: Greiff will, dass ich in diesem Zustand weiterlebe. Er weiß, dass das die schlimmste Strafe für mich ist. Darum werde ich hier relativ gut versorgt. Glaub mir, ich habe mir schon hundertmal gewünscht, sterben zu können.“
„Es tut mir leid, dass ich es damals nicht geschafft habe, nochmals zu dir zurückzukehren“, sagte Deborah hastig. „Albrecht hat mich sofort von Osman nach München zurückschaffen lassen. Er hat sogar noch einen weiteren Mann zur Bewachung mitgeschickt.“
„Mach dir keine Gedanken, ich wollte …“
„Ich habe sie übrigens dabei, die Kapsel, die ich dir bringen sollte“, fiel Deborah ihr ins Wort. „Du wirst es nicht glauben, aber sie war noch immer unter dem Handtuchschrank im Hotel festgeklebt.“ Deborah kramte in ihrer Hosentasche und hielt sie Marlene auf der Handfläche entgegen.
Marlene starrte verblüfft darauf. Da lag sie, die Lösung ihrer Leiden. So nah. Doch sie war nicht eine Sekunde lang versucht. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bewahr sie für mich auf.“
„Gut“, meinte Deborah und steckte die Kapsel zurück in ihre Tasche. „Dann sollten wir jetzt überlegen, wie wir dich hier rausschaffen können.“
Wieder schüttelte Marlene den Kopf. „Nein, bring dich nicht noch mehr in Schwierigkeiten, Deborah. Besser du kehrst jetzt mit Osman ins Hotel zurück, bevor dich jemand bei mir sieht.“
„Aber ich will dir doch helfen! Und was ist mit den Krücken, die ich dir besorgen kann?“
„Lass es gut sein, Deborah. Es gibt hier einen Arzt, der mir schon öfters geholfen hat. Ich werde mich ihm anvertrauen. Das ist meine einzige Chance, wenn ich wieder
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