Honigtot (German Edition)
empfand Gustav Hochachtung für seinen streng katholischen Freund Fritz. Fritz Gerlich war ein mutiger und unerschrockener Mann, wie es nur wenige gab. Furchtlos kämpfte er seit Jahren mit der Feder gegen Diktatur und Tyrannei an, ließ sich selbst durch Morddrohungen und wirtschaftlichen Ruin nicht von seinen Überzeugungen abbringen.
Seine Auflage sank von Woche zu Woche, weil SA-Männer den Verkauf sabotierten, indem sie Käufer ganz offen einschüchterten.
Die SA-Männer entfernten sich in die andere Richtung. Vorsichtig um sich spähend, setzte Gustav seinen Weg fort. Hier und da begegneten ihm vereinzelte Spaziergänger, Spätheimkehrer oder Liebespaare, die ebenso diskret wie er, obgleich aus anderen Motiven, das Licht der Straßenlaternen scheuten.
Bevor er in die Hofstatt einbog, stieg ihm bereits kalter Rauch in die Nase. Noch einmal beschleunigte Gustav seinen Schritt, hastete um die Ecke und stoppte abrupt.
Vor sich auf der Straße erkannte er im Schein der Laternen vereinzelte, unregelmäßige Anhäufungen, die an manchen Stellen in der Dunkelheit aufglommen. Ein kalter Windstoß fegte durch die Straße und gab dem kaum erloschenen Feuer neue Nahrung.
Einige wenige Schaulustige und Spaziergänger standen auf der Straße verteilt, einige wenige gestikulierten, der Rest begann sich langsam zu zerstreuen. Die Spannung kürzlich stattgefundener Ereignisse hing noch in der Luft. Mit der schlimmsten aller Ahnungen näherte sich Gustav langsam der Adresse Hofstatt 6. Noch zwei Häuser trennten ihn von der letzten Gewissheit. Er sandte ein verzweifeltes Stoßgebet gen Himmel, dass es nicht seinen Freund Fritz getroffen hatte.
Sogleich schämte er sich – dies bereits zum zweiten Mal binnen weniger Minuten. Selbst wenn es sich bei dem Betroffenen nicht um seinen mutigen Freund handeln sollte, wie konnte er leichten Herzens jemand anderem das Unglück wünschen? Es war das ewige Kreuz der Menschheit. Ein jeder sah nur auf sich selbst und jene, die ihm am nächsten standen. Erleichtert seufzte man dann auf, wenn einen das Unglück nicht persönlich getroffen hatte. Für den eigenen Frieden zimmerte man sich beliebige Argumente zurecht - denn aus irgendeinem Grund werden die Dinge wohl geschehen sein, nicht wahr? Also keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, wegsehen, das eigene Leben in Ruhe wieder aufnehmen - schließlich hatte man am eigenen Joch genug zu tragen ...
Zögerlich überwand Gustav die letzten Meter, bis er direkt vor der Fassade zu Fritz' Verlags- und Redaktionsräumen stand. Sein Verstand weigerte sich zu begreifen, was sein Herz längst wusste. Langsam hob er den Kopf und musterte die dunkle Fassade des Backsteingebäudes bis hinauf zum zweiten Stock. Seinen Augen bot sich die übliche Spur der Verwüstung staatlich sanktionierter Macht.
Alle Scheiben waren zertrümmert worden, und die noch schwelenden Haufen auf der Straße erklärten sich von selbst: Es waren Möbel, Bücher und Papiere, die man vom Fenster aus auf die Straße geworfen hatte. Erschüttert verharrte Gustav davor. Ein Stuhlbein ragte wie ein mahnender Finger aus dem Aschehaufen vor ihm auf. Daneben lag eine verbeulte Triumph-Schreibmaschine. Fritz' gesamtes Lebenswerk, zerstört und dahin. Aber wo war Fritz? Was war mit seinem Freund geschehen? Er hatte ihn unter den Herumstehenden nicht bemerkt. Hatte er sich rechtzeitig vor den Schergen in Sicherheit bringen können?
Ein kleiner, ältlicher Mann mit Nickelbrille trat neben ihn und starrte mit demselben erschütterten Ausdruck zu den zerschlagenen Fenstern hinauf. „Grüß Gott. Sind Sie nicht der Freund von Herrn Gerlich? Der Arzt?“, flüsterte er dann. Verstohlen sah er sich um, als fürchtete er fremde Augen.
„Wer sind Sie?“, fragte Gustav zurück und musterte den Mann seinerseits misstrauisch. Er glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben.
„Entschuldigen Sie. Mein Name ist Kohler, Friedrich Kohler. Ich bin ...“ Er stockte kurz, schluckte und nahm einen neuen Anlauf. „Ich muss wohl eher sagen, ich war Herrn Gerlichs Nachtredakteur.“ Er strahlte so viel hilflose Fassungslosigkeit aus, dass es Gustav wie ein eisiges Messer in die Eingeweide stach. Angsterfüllt packte er ihn am Arm. „Wissen Sie, was mit dem Herrn Gerlich ist? Wo ist er? So sprechen Sie doch.“
„Wo er ist? Das weiß ich nicht. Es waren Männer der SA. Verdammtes Pack. Sie haben alle Räume demoliert und die Schreibmaschinen und Möbel aus dem Fenster geworfen. Herr Gerlich
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