Honigtot (German Edition)
Melodie in Elisabeths Kopf gewann rasend an Tempo, vom Adagio über das Moderato wurde es zum flotten Prestissimo und genauso schlug ihr Herz, schnell und schwer und außer Takt.
Dann, kurz nach neun Uhr vormittags, ertönte endlich das charakteristische Schrillen. Wie von Sinnen stürzte Elisabeth zur Apparatur. Das Telefonfräulein darin sagte blechern: „Ein Anruf für Sie aus der Schweiz. Einen Augenblick, bitte.“
Ein Rauschen und ein Knacken und dann war da die Stimme aus dem fernen Zürich. Aber sie gehörte nicht Gustav, sondern Ottilie und sie schrie: „Frau Doktor, Frau Doktor, sind Sie es?“
„Ja doch, Ottilie. So sprich doch, wo ist der Herr? Geht es ihm gut?“
“Gott sei Dank, Sie sind´s wirklich, gnädige Frau. Aber der Herr Doktor, der ist nicht da!“ Ottilie bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen, weil der Doktor sie vor der Abfahrt darum gebeten hatte.
„Wie, er ist nicht da? Wo ist er denn?“, rief Elisabeth, die die Hörmuschel fest an ihr Ohr gedrückt hielt, als wollte sie hindurchschlüpfen. Doch Ottilies Panik kam ihr längst daraus entgegen und infizierte sie mit furchtbaren Ahnungen.
„Aber, das weiß ich doch nicht! Ich habe gewartet und gewartet, bis der Bahnsteig ganz leer war und alle Koffer weg, aber der Doktor ist nicht ausgestiegen. Was soll ich jetzt bloß tun?“, schluchzte sie, überwältigt von der weiten Fremde, die sie nicht kannte. Niemals war sie südlicher als bis nach Straßlach gekommen.
„Ottilie, bitte beruhigen Sie sich.“ Und während Elisabeth die Worte aussprach, spürte sie die bangen Blicke ringsherum auf sich ruhen. Deborah, bleich und mit weit aufgerissenen Augen, versuchte Haltung zu wahren - sie hielt dabei tröstend die Hand ihres Bruders in der ihren. Zu Wolferls Rechten war Magda zur Stelle, die sich zu einer hübschen und lebhaften Frau gemausert hatte, verlässlich in allen Lagen.
Elisabeth sah sie alle der Reihe nach an und wusste, das war ihre Familie, die sie liebte und die ihr vertraute. Aus diesem Gefühl der verbindenden Stärke schöpfte sie jetzt Kraft. Eine große innere Ruhe überkam sie. Wenn das Allerschlimmste eingetreten sein sollte, dann hatte sie jetzt eine Aufgabe vor sich, bei der Angst und Zaudern nicht hilfreich waren. Jetzt zählte allein Verstand und beherztes Handeln.
Zunächst galt es, alles Brauchbare aus Ottilie herauszuholen und ihr weitere Anweisungen zu erteilen. „Ottilie, hören Sie mir genau zu. Haben Sie den gnädigen Herrn in München in den Zug einsteigen sehen?“
„Ja, gnädige Frau. Aber nur von weitem, denn die Anweisung lautete doch, dass wir nicht miteinander sprechen sollten! Erst wieder am Bahnhof in Zürich.“
Das bedeutete, überlegte Elisabeth, dass Gustav irgendwo dazwischen den Zug verlassen haben musste. Entweder freiwillig, weil er in Gefahr war oder … Ihr fiel ein, dass sie gar nicht wusste, wie oft der Zug auf der Fahrt überhaupt hätte halten sollen. Sicher gab es immer auch außerplanmäßige Stopps.
„Hat der Zug irgendwo gehalten, wo er nicht hätte halten sollen, Ottilie? Gab es eine Durchsuchung durch die Polizei oder haben Sie andere Leute in Uniformen gesehen?“
„Nein. Das ist es ja. Nichts, und der Doktor ist trotzdem weg, und ich habe seine Papiere. Was soll ich bloß machen?“, greinte sie erneut drauflos.
„Es gibt keinen Grund für Tränen, Ottilie“, sagte Elisabeth bestimmt. „Passen Sie auf, Sie tun jetzt das Folgende: Für heute und auch noch morgen bleiben Sie in Zürich in Ihrer Pension. Studieren Sie den Fahrplan und warten Sie bei jedem Zug, der aus Richtung München ankommt, ob der Herr aussteigt. Zwei Tage, hören Sie? Der Doktor ist vielleicht unterwegs ausgestiegen, um einen späteren Zug zu nehmen und dann braucht er seine Reisepapiere. Verhalten Sie sich unauffällig und rufen Sie mich heute Abend um acht Uhr wieder an. Der gnädige Herr und ich verlassen uns auf Sie, Ottilie. Wir werden es Ihnen gut vergelten. Gott schütze Sie.“
„Gott schütze Sie auch, gnädige Frau.“ Es klickte im Hörer, und die einzige Verbindung in die Schweiz brach ab.
Sofort nach dem Telefonat machte sich Elisabeth auf zur Kanzlei von Meyerlinck & Co., um sich mit dem Advokaten zu beraten.
Der Baron von Meyerlinck hatte allerdings bereits eine Menge Besuch, der aber lange nicht so willkommen war wie Frau Elisabeth Malpran und ganz gewiss weniger schön und kultiviert.
In der Kanzlei herrschte verheerende Unordnung. Leere Akten und Papierfetzen
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