Honigtot (German Edition)
Elisabeth überschlug die Stunden im Kopf und errechnete, dass ihr noch etwas mehr als zwei Tage blieben, bis sie den Zug nach Calais über die Stationen Stuttgart und Paris besteigen musste. Vom französischen Calais aus würde sie ein Schiff über den Kanal weiter nach Dover in England bringen. Es war fast derselbe Weg, den Gustav über Zürich hatte nehmen wollen.
Elisabeth erhob sich. Ihre nervöse Unschlüssigkeit ließ sie an die Anrichte treten, auf der mehrere Aufnahmen ihrer Familie in silbernen Rahmen gruppiert waren. Es waren eingefrorene Momente des Glücks, bewahrt für die Ewigkeit, doch Elisabeth zehrte nun von ihnen, spürte in jedem Bild Zuversicht, und jedes Lächeln flüsterte ihrem Herzen Mut und Entschlossenheit zu.
Ein jäher Impuls durchzuckte sie, jetzt wusste sie, was sie tun würde! Anstatt weiter untätig herumzusitzen, würde sie eigene Nachforschungen zum Verbleib ihres Gatten anstellen! Sie ergriff eine Fotografie Gustavs und löste sie aus dem Rahmen. Dann rief sie Bertha zu sich und sagte ihr, dass sie ausgehen würde. Sie nahm ein Taxi zum Hauptbahnhof, begab sich zum Bahnhofsvorsteher und erkundigte sich bei ihm nach dem Namen des Schaffners, der gestern die Aufsicht über den Mittagszug nach Zürich gehabt hatte.
Sie hatte Glück, der Mann wurde für 14:30 Uhr erwartet. Elisabeth wertete dies sofort als gutes Zeichen. Schließlich hätte er ja unterwegs sein können oder auch sehr spät zum Dienst erscheinen.
Elisabeth verbrachte die kurze Wartezeit in einem nahe gelegenem Kaffeehaus. Danach benötigte sie ein neues Paar Handschuhe, weil die ihren ihre Nervosität nicht überstanden hatten.
Punkt 14:30 Uhr fing sie den älteren Mann am Bahnsteig ab, zeigte ihm die mitgebrachte Fotografie ihres Mannes und fragte ihn, ob er sich an diesen Fahrgast am gestrigen Tag nach Zürich erinnern konnte?
Der Mann hatte gütige Augen, nach Großvater-Art. Ernst studierte er die Fotografie durch sein Monokel. Dabei zupfte er an seinem Bart, dessen steife Spitzen Kaiser Wilhelms Glorie noch in Ehren hielten. Schließlich antwortete er: „Nein. Es tut mir leid, gnädige Frau.“ Er wandte sich rasch von Elisabeth ab.
Elisabeth, älter und reifer, verstand sich inzwischen auf Menschen und im Besonderen verstand sie sich auf die Sprache der Augen. Sie konnte in ihnen wie von einem Notenblatt Tempi und Timbre ablesen. Daher wusste sie jetzt, dass der Mann gelogen hatte. Und sie erkannte auch, warum. Es war die Angst der herrschenden Zeit. Die gleiche Angst, an der schon viel zu viele in diesem Land litten - verursacht durch Drohungen und Macht.
Diese Erkenntnis führte zu ihrem nächsten Entschluss: Sie musste nach Berlin fahren, direkt in die Zentrale der Macht. Sinnlos, weitere Zeit in München zu verschwenden, der Stadt, in der Heinrich Himmler als Polizeipräsident residierte.
Gustav kannte den fast gleichaltrigen Himmler noch vom Königlich-Bayerischen Wilhelms-Gymnasium in der Thierschstraße, das beide besucht hatten. 1559 vom Jesuitenorden gegründet, galt es als das älteste und renommierteste Gymnasium Münchens.
Nach Heinrich Himmlers Ernennung hatte Gustav zu Elisabeth gesagt: „Und so werden aus kleinen Monstern große Monster. Arme Heimat, armes München.“
Wenn Elisabeth nach Berlin reisen wollte und danach noch den Zeitplan London einhalten wollte, dann musste sie für ihre Reise in die Hauptstadt das neue Reisemedium Flugzeug nutzen. Es würde das erste Mal in ihrem Leben sein. Eine Zugfahrt in die Reichshauptstadt und zurück hätte zu viel Zeit gebraucht. Obwohl ihr nicht wohl dabei war, zögerte sie keinen Augenblick in ihrem Entschluss.
Rasch eilte sie nach Hause. Magda war inzwischen mit den Kindern zurückgekehrt. Elisabeth weihte sie in ihr Vorhaben ein und erteilte ihr Instruktionen, während sie wahllos einige Dinge in eine große Tasche stopfte, die sie für einen Abend und eine Nacht in der Hauptstadt benötigen würde.
Kapitel 18
BERLIN, Reichshauptstadt
Am frühen Abend landete Elisabeth mit einer kleinen Maschine der Lufthansa auf dem Berliner Flugfeld Tempelhof. Der Flug hatte sie gründlich durchgerüttelt, sie war bis auf die Knochen durchgefroren und fühlte sich dazu halb betäubt von den Benzinausdünstungen des Flugzeugs.
Im Hotel Adlon am Brandenburger Tor angekommen, tätigte sie sofort einige Anrufe.
Zunächst wandte sie sich an den neuen Leiter der Reichsmusikkammer, Wilhelm Furtwängler, doch dieser war verreist.
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