Honigtot (German Edition)
hat. Oder aber das Verschwinden eines jüdischen Mitbürgers hat ihn einfach nicht tangiert. Wir wissen, dass unsere reinblütigen Arier“ - es lag viel Verachtung darin, wie er diese beiden Worte aussprach -, „mit Eifer dabei sind, alle unerwünschten Elemente mit eisernem Besen aus dem Land zu kehren. Sie freuen sich daher über jeden, der freiwillig geht. Wenn Ersteres zutrifft, dann wäre die Frage allerdings: Wenn die Nazis Ihren Gatten nicht haben, wer hat ihn dann?“
Entsetzt fiel Elisabeth der alte Schaffner in München ein. „Mr Lochner, ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Nazis ihn haben.“ Sie berichtete ihm kurz von dem Mann, wie er unverkennbar Angst gehabt und um sich geblickt hatte, als fürchtete er braune Blicke.
„Gut, dann überlegen wir einmal. Da wäre also die Sache mit den falschen Papieren, die ihren Mann als reisenden Arier ausweisen. Entweder hat man entdeckt, dass die Papiere unecht sind und er wurde deshalb verhaftet, oder sie, die Nazis, wussten gleich, wer er ist, weil ihnen ihr Plan von Anfang an bekannt war. Im ersteren Fall wird er von der Polizei befragt, im zweiten Fall entweder von SS oder Gestapo.“
Elisabeth lief bei dem Wort befragt gleich nochmals so bleich an, denn sie wusste, was das bedeutete. „Aber was soll ich denn jetzt tun, Mr Lochner? Ich muss meinen Mann retten!“, rief Elisabeth verzweifelt aus.
„Ich würde Ihnen Folgendes vorschlagen, gnädige Frau. Auch wenn es Ihnen schwerfallen wird. Aber sobald Sie wissen, dass Ihre Kinder in Sicherheit sind, sollten Sie nochmals Kontakt zu Göring aufnehmen und ihn informieren, dass Ihr Mann unter dem Namen Peter Friehling reist. Ich empfehle, dies wenn möglich als tränenreiches Geständnis vorzutragen. Göring scheint da ja empfänglich zu sein – jedenfalls, was man so hört. Ich fürchte, mit mehr Rat kann ich Ihnen nicht dienen, Gnädigste.“
Mr Lochner stand auf und schenkte sich nun selbst einen Cognac ein. Das Gespräch verstummte und beide blickten gleichzeitig zum schwarzen Telefon. Aber die gemeinsame Beschwörung von Technik und Bakelit schlug fehl - die Apparatur zeigte keinerlei Entgegenkommen und blieb stumm; mitleidslos strahlte sie nichts weiter ab als die Melancholie eines toten Dings.
Als sich Mr Lochner verabschiedete, versprach er, sich später wieder mit Frau Malpran in Verbindung zu setzen.
Elisabeth rief ihn an der Tür nochmals zurück. Ihre Stimme wirkte seltsam angespannt, als wüsste sie bereits die Antwort auf eine Frage, die sie sich eben selbst gestellt hatte:
„Mr Lochner, bitte seien Sie ehrlich zu mir. Wie schlimm wird es noch werden? Ist Sicherheit nur noch ein Traum der Mütter?“
Mr Lochner drehte sich zu ihr und sah sie betrübt an. Er erkannte an der Traurigkeit in ihrem Blick, dass ihre Frage nicht nur ihren Mann und ihre beiden Kinder einschloss, sondern das Schicksal aller im Land lebenden Minderheiten, all jener Unglücklichen, die in das Zentrum der menschenverachtenden Politik der Nationalsozialisten gerückt waren.
Unvermittelt musste er daran denken, wie sie ihm gestern von ihrem kleinen Sohn erzählt hatte, der ein verkürztes Bein hatte und deshalb hinkte, und an die kursierenden Gerüchte, dass Hitler, den er persönlich kennengelernt und interviewt hatte, plante, Menschen mit körperlichen Defekten auszulöschen.
Vermutlich hatte man damit schon begonnen, denn die Nazis errichteten für ihr böses Werk überall im Land Konzentrationslager. Darüber hinaus munkelte man in seinen Kreisen auch über Zwangssterilisationen an Behinderten, mit denen das Regime verhindern wollte, dass sich diese ` unerwünschte Sorte missgebildeter Menschen ´ fortpflanzen konnte. Angeblich existierte hierzu ein schriftlicher, geheim gehaltener Führerbefehl.
Doch etwas in den Augen und der Haltung der Sängerin verriet Mr Lochner, dass sie sich durch ihre Frage keineswegs eine falsche Beruhigung von ihm erhoffte oder eine Bestätigung, dass vieles, was man über die Pläne und Machenschaften der Nazis hörte, nichts weiter wäre als übertriebene Gerüchte, dummes Geschwätz, dem man nicht allzu viel Glauben schenken sollte.
Louis P. Lochner konstatierte vielmehr überrascht, dass sie im Grunde ihres Herzens die Wahrheit längst erkannt hatte. Und dass sie über ausreichend Mut verfügte, um diese zu verkraften.
Daher erwiderte er ehrlich: „Ich fürchte, es wird noch sehr schlimm werden, Frau Malpran. Ich denke - so wie viele andere auch in diesem Land -,
Weitere Kostenlose Bücher