Honigtot (German Edition)
Schläfen war lange ergraut.
Deborah juckte es in den Fingern, aber sie bestellte sich nur einen Mocca. Den ganzen restlichen Nachmittag hielt sie sich dann an der einen Tasse fest, weil ihre Finger ständig vor Drang zuckten, die ihr bekannten Stücke auf dem Tisch nachzuspielen.
Am nächsten Tag war sie zur gleichen Zeit wieder zur Stelle. Als der Klavierspieler in seiner ersten Pause aufstand und schnurstracks auf sie zusteuerte und sie ansprach, erschreckte er sie damit beinahe zu Tode.
Er verbeugte sich vor ihr und sagte in feinem Schwyzerdütsch: „Gestatten Sie, junge Dame? Mein Name ist Friedrich Gold. Gehe ich richtig in der Annahme, in Ihnen eine junge Kollegin erkannt zu haben?“ Schon nahm er Platz und der verwirrten Deborah fiel nichts weiter ein, als zu erwidern: „Sehr erfreut.“ Sie fragte sich, wie man sich einem fremden Mann gegenüber in einer Bar verhielt, wenn man gerade erst siebzehn und das erste Mal auf großer Reise war? Wäre Albrecht böse mit ihr, wenn er jetzt zufällig hereinkäme und sie allein mit diesem Herrn Gold am Tisch anträfe?
Herr Gold war ein erfahrener Mann im Umgang mit Damen, ein Pianist hat so seine Gelegenheiten. Ihm entging daher keineswegs ihre mädchenhafte Verlegenheit. Er sagte: „Ihre Konzentration auf die Musik und Ihre unruhigen Finger haben Sie verraten. Ich wollte Sie deshalb fragen, junges Fräulein … Möchten Sie vielleicht gerne auch einmal selbst spielen?“
Dazu brauchte es keine weitere Aufforderung - dagegen hätte Albrecht sicherlich nichts einzuwenden. Sie setzte sich an den schwarzglänzenden Flügel, und die erste Berührung mit den Tasten war wie immer pure Zärtlichkeit. Sie spielte ein Stück nach dem anderen: Mozart, Chopin, Brahms, Liszt, alles, wonach sie sich sehnte. Selbstvergessen und entrückt gab sie sich der Musik hin. Sie erwachte erst wieder daraus, als zwischen zwei Stücken der Applaus einer unerwarteten Menge Publikum aufbrandete. Verwirrt sah sie sich um.
Deborah hatte ihre Umgebung vollkommen ausgeblendet gehabt und vergessen, dass sie sich an einem öffentlichen Ort befand. So sehr war sie in ihrer Versunkenheit abgetaucht, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, dass sie plötzlich begonnen hatte zu singen. Ihre Stimme hatte viele Zuhörer in die Bar gelockt.
Dies war das erste Mal, dass sie außerhalb des Konservatoriums vor einem echten Publikum gesungen hatte. Die Freude und die Bewunderung, die die Gesichter der sie Umgebenden widerspiegelten, hatte sie mit ihrer Musik hervorgebracht; selten hatte Deborah mehr Glück in ihrem Leben empfunden. Trotzdem war sie auch ein wenig traurig, weil sie an ihre Mutter dachte, die die gleiche Freude bei ihren Auftritten gefühlt haben musste. Niemals wieder würde ihre Mutter auf der Bühne stehen und ihr Licht und ihre Kunst in die Welt hinaustragen.
Ein älterer Herr im feinen Gehrock und Zylinder drängte sich nun durch die Menge und trat neben sie.
Völlig unerwartet ergriff er Deborahs Hand, tätschelte sie und schwärmte: „Welch eine Stimme, mein Kind. Dieser Schmelz und diese Lyrik der Seele! Sie erinnern mich so sehr an meine liebe Freundin, die unvergleichliche Elisabeth Malpran. Sagen Sie, wie ist Ihr Name, mein Kind?“
Deborah sah ihn mit großen Augen an. Sie benötigte immer eine Weile, um aus den Höhen der Musik, die für sie eine andere Welt mit einer universellen Sprache war, herabzusteigen und in die irdische Sprache zurückzufinden. „Vielen Dank, mein Herr. Frau Malpran war meine Mutter. Mein Name ist Deborah.“
„Oh, das ist wahrlich ein Mirakel“, freute sich der Herr und klatschte in die Hände. „Die Vorsehung allein hat Sie hierhergeführt, mein Kind. Dass ich das ein zweites Mal erleben darf! Kommen Sie, ich lade Sie auf eine Tasse Kräutertee ein. Das ist jetzt Labsal für Ihre Stimme.“
Und er führte die verblüffte Deborah hinaus in den Salon und bestellte sogleich für sie beide Tee bei einem befrackten Kellner mit vornehmem Gesicht.
Das Rätsel um den älteren Herrn löste sich dann sogleich für Deborah, als er sagte: „Oh, wo habe ich nur meinen Kopf. Verzeihen Sie einem alten Herrn, liebe kleine Deborah. Mein Name ist Franz Lehár. Ich habe Ihre Mutter das erste Mal in einer Kirche zu Wien singen gehört, da war sie gerade einmal elf Jahre alt. Von ihrem Tod zu erfahren, war ein großes Unglück für mich.“
Deborah blieb der Mund offenstehen. Hier und jetzt einer der größten Musikerlegenden und Komponisten ihrer Zeit
Weitere Kostenlose Bücher