Honigtot (German Edition)
würde.
An einem Sonntag Mitte März kam Deborah nach der Kirche zu ihm in die Sakristei. Sie beschwerte sich bei ihm, ihn seit dem Tag der Beerdigung der Mutter nicht mehr gesehen zu haben. Sie weinte dann und wirkte verwirrt und unsicher und Leopold hielt sie im Arm und tröstete sie. Er kam sich dabei wie ein gemeiner Verräter vor.
Deborah schniefte: „Wenigstens ist Herr Brunnmann sehr verständnisvoll. Er vermisst meine Mutter auch sehr. Ich glaube, er ist einsam.“ Leopold wich ihr aus, indem er ihr ein Taschentuch reichte und Deborah stattdessen fragte: „Du sagst immer noch Herr Brunnmann?“
„Ich weiß, es ist eine dumme Angewohnheit. Ich habe immer Herr Brunnmann zu ihm gesagt. Er hat mich auch schon oft gebeten, ich soll ihn Albrecht nennen, aber es fällt mir schwer. Irgendwie komisch, nicht?“ Sie hob den Kopf von seiner Schulter, an die sie sich geflüchtet hatte und sah in direkt an. „Dabei fällt es mir ganz leicht zu dir Onkel Poldi zu sagen, Onkel Poldi.“
„Fein, fein.“ Ihm wurde von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher zumute. Er räusperte sich. „Wie geht´s dem Wolferl? Isst er auch schön seine Portionen auf?“
„Ja, unsere Ottilie ist da ganz hinterher. Kann ich dich um einen Rat wegen deinem Bruder fragen?“
Genau dies hatte Leopold die ganze Zeit über befürchtet. Erst trieb er das Lamm dem Wolf zu und nun kam es zu ihm zurück, um ihn um seinen Beistand zu bitten. Er stand ziemlich hastig auf und riss an dem Überkleid, welches er bei der Messe getragen hatte, um es sich auszuziehen. In Wirklichkeit wollte er verhindern, dass Deborah sein bekümmertes Gesicht sehen konnte. Er verdammte sich für seine Feigheit.
„Was gibt es denn, meine Liebe?“, sprach er in seine Stola.
„Es ist so: Seit Mutters Tod ist Herr Brunn…, ich meine Albrecht, sehr viel zuhause und verbringt gerne Zeit mit mir. Und gestern hat er mir dann gesagt, dass er für einige Wochen verreisen muss. Er hat mich gebeten, mit ihm zu kommen. Ich habe ihm geantwortet, dass ich mitten im Studienjahr bin und dass ich auch meinen kleinen Bruder nicht allein lassen kann. Aber er hat fast geweint, Onkel Poldi, und gesagt, er weiß nicht, ob er selbst so lange alleine bleiben kann. Ich hätte niemals gedacht, dass ihn Mamas Tod so sehr mitnehmen würde. Ich meine, wo er doch immer so einen stabilen Eindruck auf alle gemacht hat. Er tut mir leid. Was soll ich tun, Onkel Poldi? Er ist dein Bruder, du kennst ihn viel besser als ich. Soll ich mitfahren?“
Leopold verwünschte die Schauspielkünste seines Bruders und sehnte sich gleichzeitig danach, dieselbe Begabung sein eigen nennen zu können. Gerade heute hatte Albrecht Deborah und Wolfgang zum sonntäglichen Gottesdienst begleitet, was er sonst nie tat.
Leopold begriff, dass sein Bruder es so eingerichtet hatte, dass Deborah zu ihm ging, um ihn um seinen Rat zu bitten. Er hörte die Falle förmlich in seinem Kopf zuschnappen und das Geräusch erschien ihm ebenso höhnisch wie unheilvoll. Würde er Deborah jetzt von dieser gemeinsamen Reise abraten, würde Albrecht sofort in ihm den Drahtzieher vermuten.
Die eigentliche Überlegung war daher: Als wie geduldig würde sich sein Bruder erweisen? Wenn Deborah ihm die Mitreise verweigerte, ob mit oder ohne sein Zutun, gäbe es für ihren Bruder dann noch eine Schonfrist oder würde Albrecht dann sein wahres, sein grausames Gesicht offenbaren?
Doch Leopold gab sich die Antwort darauf selber - sie erbot sich wie von allein aus seinem geheimen Wissen um die vergangenen Taten seines Bruders Albrecht. Er konnte rein gar nichts tun, um Deborah vor ihrem Schicksal zu retten, doch Wolfgang war noch nicht verloren.
Und so empfahl er seine Seele endgültig dem Fegefeuer und sprach: „Mein armes Kind. So viele Lasten trägst du schon. Wenn du gerne mit meinem Bruder verreisen willst, so tue dies ohne Sorge und Bedenken. Ich werde hier über das Wohlergeben deines kleinen Bruders wachen.“
Und indem er vorgab zu glauben, dass Deborah nur gekommen war, um seine Zustimmung zu der Reise einzuholen, hatte Leopold dem Kind mit Geschick eingeflüstert, dass es ihrem eigenen Wunsch entspräche.
So wie Albrecht durch das Böse gewachsen, so war Leopold darin geschrumpft. Er begann sein neues Leben in der Gewissheit, von nun an ein Betrogener unter Betrogenen zu sein. Gerade weil er darum wusste, empfand er seinen Betrug umfassend und beneidete jene, die dies erst Jahre später begreifen würden.
Konnte es unter Gottes
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