Honky Tonk Pirates - Das verheißene Land - Band 1
widersprechen konnte, kletterte er schon über die Pfähle hinauf in die Stadt.
BLIND BLACK SOUL WHISTLE
W ill steckte den Kopf durch ein Loch im Steg, der wie alle Stege der Stadt aus armdicken, nebeneinandergelegten Rundhölzern bestand, und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das hier war wirklich die Stadt der Piraten.
Die Pfahlbauten türmten und schraubten sich in schwindelnde Höhen und wurden von denen, die aus den Schiffen herauswuchsen und die Masten emporkletterten, noch weit überragt. Sie sahen wie Felsen aus, die mit Kränen, Schornsteinen, Kanonen, Erkern, Türmen, Fahnen und Bäumen wie von Korallen bewachsen waren. Sie wankten im Wind und dazwischen hingen die Hütten an den von Mast zu Mast gespannten Seilen wie Fische, wie Haie und Monster, die durch sie hindurchfliegen wollten. Und alles funkelte im Schein der Feuer, Fackeln und Lampions in den unzähligen Farben eines gigantischen Riffs. Und dieses Riff war bevölkert: bevölkert von echten Piraten und die waren genauso bunt, leuchtend und strahlend wie ihre Stadt. Besonders die Augen der Männer und Frauen schienen förmlich zu strahlen. Sie brannten wie Kerzen, die man an beiden Enden angezündet hat, und so etwas hatte Will bisher noch nie gesehen. So eine Freude am Leben hatte es in Berlin nicht gegeben.
»Yeah«, sagte er und prüfte sorgfältig, ob sich das, was er Moses beim Sprung auf den Querbalken jetzt schon zum zweiten Mal aus der Tasche stibitzt hatte, noch an seinem Ort, im Bund seiner Hose befand. Dann sprang er auf den Steg.
»Ihr seid also alle besser als ich«, murmelte er. »Zehnmal besser. Na, das will ich sehen.«
Da spürte er plötzlich eine Hand in der Tasche.
»Hey!« Er packte die Hand und schaute erschrocken in das Gesicht eines Affen. »Hey, Moses, hier klauen selbst schon die Tiere«, rief er und der Chevalier, der neben ihm stand, zog einen kleinen Jungen, der vielleicht halb so alt war wie der kleine Jo, an seinen dreckigen Ohren.
»Nein. Der Affe sollte dich nur ablenken«, erklärte Kahiki und wandte sich dann an den kleinen Möchtegerndieb: »Zieh die Hände aus seiner Tasche. Beide Hände, hast du gehört? Und dann machst du sie ganz langsam auf.«
Erschrocken sah Will, dass beide Hände des Jungen bis zu den Gelenken in seiner Hosentasche steckten, und er registrierte verwundert, dass er noch nicht einmal spürte, wie er sie wieder herauszog.
»Und du machst dasselbe.« Moses packte die Hand eines Mädchens, die versucht hatte, in seine Jackentasche zu schlüpfen.
Er überprüfte dreimal, ob die Hände der Kinder auch wirklich leer waren und schickte sie dann zum Teufel.
»Verstehst du mich jetzt?«, ermahnte er Will. »Und das waren Kinder. Die nimmt keiner ernst. Die dürfen noch nicht einmal auf eines der Boote.«
Sie kamen an einem Stand vorbei, an dem Obst verkauft wurde. So sah es wenigstens auf den ersten Blick aus. Doch als
Moses drei Mangos stibitzte, erklärte er Jo: »Weißt du, hier bestiehlt jeder jeden. Hier wird nichts gekauft. Hier prellt jeder die Zeche.«
»Und wovon leben sie dann?«, fragte Jo mitleidig. »Verhungern die alle, wie bei uns in Berlin?«
»Nein«, lachte Moses. »Die klauen genauso. Schau dir doch mal den Obstmann an.«
Er deutete zum Obststand zurück und dort sah Jo jetzt, wie der Verkäufer, der offenbar kein Verkäufer war, den Dieben, die ihm die Äpfel klauten, das Geld aus der Tasche zog.
Moses biss in seine Mango, spuckte sie aber gleich wieder aus, als er sah, wie Jo und Will, die dasselbe taten, ihre Gesichter verzogen.
»Traut niemals der Schale«, sagte er. »Hier ist nichts so, wie es scheint.Aber wenn man sich erst einmal auskennt, ist das Leben hier süß. Saftig und süß.«
Er saugte am Fruchtfleich.
»Mangos, oh, Mangos.Wie hab ich das hier vermisst.«
Er breitete seine Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. Doch dann hakte sich etwas in seiner Ohrmuschel ein und jemand steckte ihm Mittel- und Zeigefinger in seine Nase.
»Moses Kahiki, der Chevalier du Soleil«, krächzte die Stimme von einem Kerl, den Will und Jo nicht erkennen konnten, weil er so prall, klein und fett wie ein Rucksack an Moses hing. Sie sahen nur den Haken in Moses’ Ohr und die wulstigen Finger in seiner Nase.
»Wenn das keine Überraschung ist«, gluckste ein anderer Typ und kam, während er sich mit einem Entermesser die Achselhaare rasierte, auf ihren Freund zu.
Der Kerl war so dünn und krumm wie eine vom Sturm gebeutelte
Palme, und ebenso zerzaust und
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