Honky Tonk Pirates - Der letzte Horizont: Band 6 (German Edition)
Medaillon – der Rose der Aweiku – aus Eulenfels’ Festzelt gestohlen hatte.
Es war ein Abend gewesen wie aus dem Märchen. Auf jeden Fall stellten sich Kinder Märchen so vor. Kinder, die kein Zuhause hatten und keine Eltern und die nicht sicher sein konnten, den nächsten Tag zu überleben.
Das Spanferkel war mit Mandeln gespickt und die in Honig gebratene Haut war so knusprig und süß wie in Zucker gebrannte Nüsse. Der Apfelstrudel, den sie nicht als Dessert, sondern als Beilage aßen, schmolz auf der Zunge wie Eis, und der Zimt zerfloss mit dem Honig des Ferkels in ihren Mündern zu einem See, in dem man sich wünschte, baden zu gehen.
Ja, und deshalb erzählten sie sich ihre Träume. Sie vergaßen, wovor sie sich fürchteten. Sie vergaßen den Krieg, den Hunger, das Leid, und ihre Gesichter begannen zu leuchten. Ja, Rachel und Sarah waren erst sieben. Doch in diesem Moment wirkten die Zwillinge wie uralte Weise, und ihre Worte klangen wie Zaubersprüche: »Wir werden Piraten, und wenn wir das sind, werden wir in einer Welt leben …«
»… in der alles andersrum ist«, hörte Will Jos Stimme. Der kleine Junge hockte in der Ecke des Turms, die einst ihre Küche gewesen war, und briet ein kleines Ferkel am Spieß. »Ich dachte, das hilft uns, uns an die alten Zeiten zu erinnern«, sagte der Afrikaner, der jetzt wie damals Rachel und Sarah trotz seiner gerade einmal zwölf Jahre so unwahrscheinlich erwachsen wirkte. »Du erinnerst dich doch?«
Er musterte Will, der tief durchatmete und das Treppengeländer losließ. Wortlos ging er zu Jo und setzte sich zu ihm, nahm von dem Ferkel und aß schweigend mit ihm zusammen. Er schmeckte die Mandeln und die Süße des Honigs. Er spürte das Lächeln seines Freundes. Doch er sah ihn nicht an. Er konnte Jos Anblick nicht ertragen. Jo, der sein Freund gewesen und jetzt gekommen war, um ihn zu töten.
Will nahm das Stück Brot, das Jo ihm reichte, und tunkte damit die Soße vom Teller. Sie schmeckte fantastisch und Will konnte nicht anders. Er reckte und streckte sich und hob unwillkürlich den Blick. Er schaute Jo an, und der stellte die einzig richtige Frage:
»Was ist passiert?«
Kein ›Warum?‹ ›Du bist Schuld!‹ oder ›Warum bist du ein Verräter?‹. Nein, Jo war sein Freund. Er war es noch immer, und er wusste, dass Will nicht böse war.
»Bitte erzähl mir alles«, bat Jo freundlich. »Ich will dich verstehen.«
Und Will nahm dieses Angebot an. Er erzählte ihm alles. Vom Ende der Schlacht gegen die Valas-Schwestern. Vom Sprung von der Schlange und wie Hannah neben ihm sprang. Vom Glück, das sie fühlte und wie er davon träumte, im Fliegenden Rochen bei ihr zu sein.
»Doch das war ein Traum, denn als ich erwachte, war ich in der Hölle. Ich lag in Talleyrands Bett auf dem Grund des Meeres, und weißt du, wer mich dorthin gebracht hat?«
»Nat?«, fragte Jo vorsichtig und hoffte vergeblich, dass Will ihn dafür beschimpfen würde. Nein, nicht Nat, mein Freund, der euch beschützt hat. Das wollte er hören. Nicht Nat, den alle so bewundern. Der euch auf diese Insel brachte und diese Insel nach mir benannt hat: Das Herz aus Gold. Das wollte Jo hören. Doch Will erzählte ihm stattdessen, wie Nat ihn aus dem Meer gefischt hatte. Wie er ihn in die Luke eines der Milbenhelme gesteckt und ihm durch eine andere zugewinkt hatte, bevor er die Schwestern von Valas mit ihren Schiffen und Kanonen für immer im Meer versenkte.
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Jo leise.
»Du meinst, wenn du mich leben lässt?« Will schaute Jo an: aufrichtig, ehrlich.
Der nickte langsam: »Ja, wenn ich dich leben lasse.«
»Dann halte ich Talleyrand und seine Männer zurück. Ich bitte dich, zu unseren Freunden zu fahren und ihnen alles zu erzählen. Erzähle ihnen, was Nat gemacht hat, und dann gebe ich euch eine letzte Chance.«
Jo zuckte zusammen. Er fröstelte sichtlich, denn die Stimme von Will wurde schlagartig kalt.
»Ihr könnt euch entscheiden, ob ihr mir folgen wollt.«
»Dir?«, erschrak Jo.
»Ja, mir und meinen neuen Freunden.« Will packte Jos Hand. »Ich habe sie kennengelernt und sie haben mir endlich die Augen geöffnet. Sie sind gar nicht böse. Sie wollen dasselbe wie du. Ja, sie wollen eine Welt, in der jeder jedem vertraut. Doch das können wir nicht mit den Piraten erreichen. Nicht mit Hannah und Nat. Die betrügen und verraten. Doch Vertrauen gibt es nur, wenn jeder jedem gehorcht. Der Untertan seinem König und der König dem Untertan,
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