Honky Tonk Pirates - Der letzte Horizont: Band 6 (German Edition)
indem er dem Traum dient, den der Untertan träumt. So kann jeder am Ende jedem vertrauen. Ja, und Vertrauen ist das Zauberwort, das die Welt befreien kann. Und ich schenke es dir und allen, die mir in Zukunft gehorchen.«
Jo sah auf seinen Arm. Die Stellen, an denen Wills Finger ihn wie ein Schraubstock umklammerten, waren schneeweiß und blutleer.
»Und was passiert, wenn wir uns anders entscheiden?«, fragte er zitternd.
»Dann werdet ihr sterben«, antwortete Will und ignorierte dabei seine eigenen Tränen. »Dann werdet ihr sterben.«
Er ließ Jo los.
»Und jetzt entscheide dich, hörst du. Entscheide dich für Nat. Töte mich hier und bau eure Zukunft auf einer Lüge auf. Oder schenk der Welt das, Jo, wonach du dich sehnst: Vertrauen und Ehrlichkeit.«
Er stand langsam auf und ging zur Treppe. Er dachte dabei an die Steinschlosspistole, die neben Jo auf dem Boden lag. Er hörte, wie die Finger des Afrikaners sie langsam umfassten. Den Kolben aus Holz und den Abzug aus Messing. Er hörte das leise metallische Klacken, als Jo den Hahn nach hinten zog.
»Entscheide dich, Jo!« Will drehte sich um. »Doch töte mich bitte nicht von hinten. Sei kein Feigling wie dieser Nat.« Er hob seine Arme. »Schau mich bitte dabei an.«
Er ignorierte die Tränen. Seine Stimme war fest.
»Schau mich an, Jo!«
Er sah, wie Jo zitterte. Wie er die zweite Hand nahm, um die Steinschlosspistole ruhiger zu halten. Doch er schaffte es nicht, und er besaß nicht die Kraft, um den Abzug zu drücken.
Da drehte sich Will ganz langsam um und stieg aus dem Turm in die Kuppel hinab. Er ging aus dem Dom und hinüber zum Schloss, wo Talleyrand und Eulenfels bereits auf ihn warteten. Die fünf Fliegenden Hunde aber hingen unsichtbar in der Fassade des Doms. Die Farbe ihrer Körper verschmolz mit den Wänden, und so warteten sie darauf, Jo zu verfolgen und ihn, der schon seinen Schwur gebrochen hatte, zu einem weiteren Verrat zu zwingen.
Teil Drei – Der letzte Horizont
Mörder und Lügner
o war verzweifelt.
Er jagte mit seinem Drachenboot über die Elbe in die Nordsee und von dort durch den Kanal zwischen Frankreich und England Richtung Atlantik und Süden. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Wellen türmten sich meterhoch auf. Blitze schlugen in ihre Kämme und Donner rollten über sie hinweg.
Doch Jo hörte nichts. Nichts, außer Wills Stimme:
»Entscheide dich für Nat. Töte mich hier und bau eure Zukunft auf einer Lüge auf. Oder schenk der Welt das, Jo, wonach du dich sehnst: Vertrauen und Ehrlichkeit.«
Nur das hörte Jo.
Pausenlos.
Es war wie ein böser Traum, aus dem er nicht mehr aufwachen konnte. Was sollte er tun? Er hatte Will am Leben gelassen. Er hatte das Versprechen, das er der Hexe gegeben hatte, gebrochen. Und jetzt waren seine Freunde in größter Gefahr. Er musste sie warnen. Doch auch Will hatte recht. Nat war ein Verräter! Nat, oh ja, Nat! Der sich so um sie sorgte. Der sie alle gerettet hatte, als Hannah, Jo, und die anderen sich in der Trauer um Will beinahe verloren. Nat, der Hannah aus der Tiefe des Meeres geholt und ihr eine Lebensfreude und Liebe geschenkt hatte, die die Piratin bis dahin nicht kannte; und der sie dann zu der Insel, ihrem neuen Zuhause geführt und endlich den Frieden geschaffen hatte, nach dem sich Jo sein Leben lang sehnte.
Doch was war mehr wert? Nats Geschenk an sie alle oder sein feiger Verrat an Jos bestem Freund? Und was wog dagegen Wills Wunsch nach Rache und seine Unfähigkeit, Nat zu verzeihen?
Jo konnte nicht schlafen. Er aß nicht, er trank nicht, und deshalb war es kein Wunder, dass er fünf Tage nach seinem Aufbruch vor Erschöpfung zusammenbrach. Das Drachensegel fiel wie ein Stein ins Wasser und das kajakähnliche Boot in Form eines weißen Delfins trieb wie ein Korken auf der stürmischen Dünung.
Ja, so soll es dann sein, war Jos letzter Gedanke: Es gibt keinen Ausweg. Ich kann nichts mehr tun.
Er verlor das Bewusstsein. Seine Hände glitten ins Wasser und bald kreisten die ersten zwei Haie um das kleine Boot. Es wurden schnell drei, vier, und der fünfte war mutig. Er streifte das Boot und Jos reglose Finger. Der sechste griff an. Er stieß aus der Tiefe zu Jo hinauf und riss das Maul auf. Doch einen Moment bevor sich seine schrecklichen Zähne in Jos Arm graben konnten, drehte er ab. Die Haie verschwanden und dann war es still.
Jo spürte die Schatten. Wie riesige Vögel fielen sie aus den Wolken herab, über denen sie geflogen waren, um sich vor dem Regen
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