Honky Tonk Pirates - Es kann nur einen geben - Band 4

Er stand noch einmal im Turm der Chinesen. In der mit Skeletten gefüllten Ruine. Er sah den Ring von Kanonen mit ihren Drachenköpfen und die Gestalt der Witwe in ihrer Mitte. Er sah, wie Chen dastand, das Schwert in der Brust und genauso sah er sich selbst. Er sah sich hier in der Drachenburg stehen. Tomahawks und Pfeile nagelten
ihn an die Planken und Blut tropfte von seinem skalpierten Kopf.
    »Warum?«, hörte Will Hannah zum wiederholten Mal fragen. »Warum geben wir ihnen nicht, was sie wollen?«
    Und dann hörte er die Stimme von Feuerkopf Finn: »Weil man den Ring nicht vernichten kann. Selbst fünftausend Irokesen können das nicht. Und weil ich etwas, das ich nicht mehr besitze, auch nicht mehr bewachen kann.« DerVater von Rachel stand oben im Turm und schaute jetzt freundlich zu ihnen hinab. »Der Ring ist der Wunsch, den alle Menschen besitzen. Jeder von uns will der Beste sein. Besser als alle. Doch beim Versuch, der Beste zu werden, vergessen die Menschen, das Besser von Gut kommt. So heißt es doch: Gut, besser, am besten. Und gerade ihr Piraten wisst auch genau, dass es viel einfacher ist, der Beste zu werden, wenn man auf dem steinigen Weg, der einen dorthin führt, hin und wieder ein bisschen schummelt, trickst und betrügt. Dann ist man viel schneller besser als andere. Doch wo ist die Grenze, die einen beschützt? Damit man nicht so wird wie Chen im chinesischen Turm, wie der Schwarze Baron, oder der neue und größte Schurke, den es jetzt gibt und der nur durch Lügen erschaffen wurde: Ich meine Prinz Gagga! Nun, ich kann es euch sagen. Es gibt einen Schutz.«
    Er musterte Will, der neben Nat saß.
    »Erinnerst du dich an die Kanufahrt? Den Hudson und Mohawk hinauf? Erinnerst du dich an die schmerzenden Muskeln und wie du und Nat, weil ihr auf ehrliche Weise gekämpft habt, zu unzertrennlichen Freunden wurdet? Genau das meine ich damit. Nur wenn man auf sich selbst vertraut, auf die eigene Kraft und wenn man seine Ängste und Wünsche ganz offen
zugibt, kann man sich vor dem Bösen schützen. Ja, und wenn man den Ring niemals benutzt.«
    Will und Nat sahen sich an, und obwohl jeder von ihnen ganz sicher war, dass sie den Tag nicht überleben würden, waren sie noch einmal so glücklich, wie zu Beginn ihrer Freundschaft.
    »Deshalb seid ihr jetzt hier«, fuhr Feuerkopf fort. »Damit ihr mit eurer ganzen Kraft dafür kämpft, dass das Gute nicht stirbt. Denn wenn ihr erst einmal so seid wie Talleyrand oder Gagga, dann ist es zu spät. Dann ist eine Umkehr nicht mehr möglich. Fragt Blind Black Soul Whistle. Der hat es versucht. Aber dann reicht es noch nicht einmal aus, wenn man sein Augenlicht opfert, oder wenn man die Frau tötet, die man liebt.«
    Will, Jo und Hannah schauten zu Whistle.
    »Heißt das«, flüsterte Jo, »dass du sterben musst?« Doch im Tosen des Wasserfalls konnte man seine Frage nicht hören, und statt einer Antwort löste sich jetzt der Wassertropfen vom Balken und platschte ihm auf die Nase.
    »So, aber jetzt wird es Zeit. An die Kanonen! Und, Jo, du kannst dich ruhig trauen, sie abzufeuern. Der alte O’Brian hat mir von deiner Erfindung erzählt, mit der ihr die Mohawks schon einmal besiegt habt. Auf der Lichtung am Niagara.«
    Mit diesen Worten sprang er auf die Turmspitze, stellte sich dort in einen Kreis aus geladenen Viertelpfündern, hob seine Fackel zum Zeichen für alle, das Gleiche zu tun, und rief: »Feuer!«
    Jo kämpfte mit seinem schlechten Gewissen. Er holte tief Luft, presste die Lippen aufeinander, schloss seine Augen und hielt dann zusammen mit den achtzehn anderen die Fackel an das kleine Zündloch der Kanone.
    Das Pulver blitzte kurz auf. Der Donner der Schüsse klang nur wie eine kleine Lärmspitze im Tosen des Wasserfalls und als
sich der Pulverdampf langsam verzog, schwirrten anstelle von zerhacktem Blei Schwärme von Fledermäusen um die Drachenburg.
    Das dachten zumindest die Irokesen. Doch Jo wusste es besser und er jauchzte vor Freude, als sich die hölzernen Bumerangs im Sturzflug auf die Indianer senkten und sie von hinten im Nacken trafen.
    Danach waren zwei Drittel der Kanus nicht mehr besetzt und während Jo und die anderen schon den schnellen Sieg feierten, stellte Will fest, dass in den meisten Kanus nur ein Indianer gesessen hatte. Doch wo waren die anderen der fünftausend Krieger, wenn sie sich nicht in den Boten befanden?
    »Nat!«, rief Will nur und dann rannte er los. Er stürmte zur Turmspitze und lehnte sich über die Brüstung.