Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
im Simulator, egal wie realistisch sie sein mochte, und einer echten ein himmelweiter Unterschied bestand. Sosehr ihr die auferlegten Beschränkungen auch zuwider waren, sie wusste, dass man sie nur zu ihrem Besten …
Später konnte er sich nicht erinnern, was genau es gewesen war, das seinen Gedankengang unterbrochen hatte. Gerade noch waren seine Gedanken normalen Wegen gefolgt, und im nächsten Moment brachen sie einfach ab. Einfach so, als hätte jemand in seinem Kopf einen Schalter umgelegt, worauf Ranjit den Blick von seiner Schwester löste und auf die Wand aus schneeigem schwarzen Fels richtete, die gleich hinter den Fenstern der Liftkabine vorüberzog.
Rau war sie, diese Wand, bedeckt mit Rissen, an denen Eiszapfen hingen, und Spalten, in denen sich dünne Schneefelder gesammelt hatten. Ranjit war von diesem Schrammenmuster zuerst fasziniert gewesen, hatte sich jedoch rasch daran gewöhnt. Etwas an ihnen hatte sich verändert. Er furchte die Stirn, während er herauszufinden suchte, worin diese Veränderung denn nun bestand. Dann begriff er. Durch die Schneetaschen tanzten feine Nebel aus Schneeflocken und Eiskristallen – ähnlich Schneefahnen, aber nicht ganz genauso.
Dabei geht doch überhaupt kein Wind , dachte er verblüfft. Jedenfalls nicht genug. Und was ist das für ein Getöse? Fast als …
Er sah durch das Crystoplastdach nach oben und glaubte, ihm stockte das Herz.
Csilla Berczi riss den Kopf hoch, als sie das erste dumpfe Rumpeln nicht nur hörte, sondern auch in den Füßen spürte. Das Geräusch erkannte sie nicht, doch aus den Tiefen ihres Gehirns stieg eine Warnung auf, ein Überbleibsel aus der Höhlenmenschenzeit vielleicht. Sie suchte den Horizont auf Bedrohungen ab, dann keuchte sie auf, als hätte ihr gerade jemand mit voller Kraft in den Bauch geschlagen.
Das Bergmassiv über Athinai schien sich schaudernd zu heben und zu senken. An der Spitze des Perikles setzte eine Fallbewegung ein, langsam wie in Zeitlupe, und zunächst schien sie mit den Gebäuden und Menschen am Fuß des Berges überhaupt nichts zu tun zu haben. Das aber änderte sich mit furchterregender Geschwindigkeit. Die Zeitlupenbewegung beschleunigte sich, und je schneller sie wurde, desto weiter breitete sie sich aus. Mehr und mehr schien der Berg zu zerbröckeln, sich zu kräuseln wie die Spitze einer gigantischen Meereswelle mit Gischt aus Schnee, der hoch darüber aufstob. Felsen, Ausbiss und das tiefdunkle Grün von Nadelbäumen verschwanden im eilenden Maul der Lawine. Csilla Berczi hörte sich selbst einen ungläubigen Entsetzensschrei ausstoßen, als eine tödliche Wand aus Fels, Schnee, zerborstenen Bäumen – und toten Menschen die Lifttürme einschloss und über die Hotelanlage hereinbrach.
Wie alle modernen Skigebiete auf Gryphon verfügte Athinai über das modernste seismografische Gerät. Auf Gryphon herrschte häufig ungestümes Wetter, das sich nur schlecht für einen längeren Zeitraum vorhersagen ließ. Unter den drei bewohnten Planeten des Sternenkönigreichs war der gebirgige Gryphon zugleich auch der tektonisch aktivste. Dadurch entstand eine doppelte Lawinengefahr, die das ganze Jahr über anhielt und im Spätwinter und Frühling, wenn die Temperaturen abrupt schwankten, ihren Höhepunkt erreichte. Als Sicherheitsmaßnahmen gegen unangenehme Überraschungen hatte das Management von Athinai ein weitverzweigtes Netz aus seismischen Sonden und Temperatursensoren eingerichtet. Es versorgte das Rechenzentrum des Ferienkomplexes in Echtzeit mit Daten, die gleichzeitig an das Gryphon Mountain Data Interface weitergegeben wurden, den Datenverbund der Gryphonischen Bergwacht. Das GMDI hatte vor zwei T-Jahrhunderten als Privatinitiative begonnen und brachte die Sensordaten mit Satellitenbildern in Zusammenhang, um im planetarischen Maßstab Schneeanhäufungen zu beobachten und nach den kleinsten Anzeichen für Instabilitäten Ausschau zu halten. Innerhalb der vergangenen fünfzig Jahre hatte sich die planetare Regierung zunehmend am Datenverbund beteiligt, denn die Urlaubsgebiete Gryphons machten mittlerweile fast zwanzig Prozent des planetaren Einkommens aus. Die Regierung hatte sich wohl gesagt, dass es sich ungünstig auf den Tourismus auswirken könnte, wenn man zuließ, dass zahlende Gäste von Lawinen erschlagen wurden. Nun verfügte das GMDI über die Mittel, Lawinen schon im Keim zu entdecken.
Wann immer es so weit kam, wurden Schritte unternommen, um die Gefahr entweder zu beseitigen
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