Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
es hat diesen Flugwagen mehrere hundert Kilometer weit vom Kurs abgebracht und dann abstürzen lassen, ohne dass er einen Notruf sendete oder wenigstens ein Bakensignal. Ich kann jedenfalls nicht glauben, dass ein erfahrener Pilot, der in einen Sturm gerät, weder seine Position durchgibt noch den Notsender einschaltet. Was haben Sie bisher gefunden? Sind die Geräte beschädigt worden, durch Blitzeinschläge vielleicht, sodass sie aus diesem Grund nicht um Hilfe rufen konnten?«
Nick Vollney und Marcus Keegan tauschten einen erstaunten Blick. Dann antwortete Vollney:
»Also, jetzt wo Sie es sagen, Doc, ich habe keine Anzeichen für Schäden gefunden, wie man sie erwarten würde, wenn ein Blitz in die Instrumente einschlägt. Auf dem Rumpf finden sich nicht einmal die charakteristischen Beulen, die Hagel hinterlässt. Allerdings muss das nichts heißen, denn es gibt genügend Gewitter, bei denen es in der unteren Atmosphäre nicht hagelt. Aber was die Instrumente angeht, da haben Sie schon Recht, Doc. Wir haben bisher angenommen, dass der Sturm ihr Comgerät gestört und ihre Bake nutzlos gemacht hat. Das Wie oder Warum haben wir noch gar nicht überprüft. Ich mache mich sofort daran.«
»Wenn es kein Blitzeinschlag war«, fügte Keegan hinzu, »dann vielleicht ein starker Abwind, der sie in niedriger Flughöhe in die Bäume gedrückt hat? Aber das wäre ihnen nur gefährlich geworden, wenn ihre Kontragravs versagt hätten. Dann werde ich mir den Kontragrav wohl noch einmal vorknöpfen müssen.« Er runzelte die Stirn. »Das wird aber eine Weile dauern.«
Scott verzog das Gesicht. »Ich bin auch müde, Marcus, aber ich wüsste schon gern, was diesen Absturz verursacht hat. Kümmern Sie sich drum, okay?«
»Na klar.« Der Ermittler kletterte in das Flugwagenwrack zurück.
Scott war so erschöpft, dass er sich selbst in die Gabel eines Pfostenbaumastes gelegt hätte, wenn dort ein ruhiges Schlafplätzchen gewesen wäre. Statt dessen krempelte er sich die Ärmel hoch, suchte sein Chirurgenbesteck und eine Operationsmaske hervor und machte sich im Frachtraum des Rettungswagens an die Arbeit. Er hatte vor Ort drei Autopsien vorzunehmen, und die Nacht war nicht mehr jung. Er durfte die Möglichkeit, dass der Mörder seine Opfer unter Drogen gesetzt hatte, nicht einfach ignorieren, zumal dies sowohl die starke Kursabweichung als auch das Fehlen jedes Notrufs erklären könnte. Bewusstlose oder verwirrte Piloten konnten ihren Wagen keinesfalls auf Kurs halten, schon gar nicht in einem Sturm, der so heftig war, dass die Zivoniks den Absturz nicht gehört hatten.
In Scotts Gedächtnis brannten fichtennadelgrüne Augen, als er mit der Arbeit begann. Neben ihm beobachtete der Streuner ihn bei dem grausigen Werk, die sterblichen Überreste der Toten zu öffnen. Wut durchzuckte Scott. Diesmal entsprang die Emotion ihm allein. Die Baumkatzen vertrauten ihm. Er sollte den Beweis erbringen, dass der Tote vor ihm ein Mordopfer war.
Scott hatte nicht die Absicht, die Baumkatzen zu enttäuschen.
Über das Gehöft der Zivoniks brach die Nacht herein, als der Flugwagen auf dem breiten Grasstreifen hinter dem Gemüsegarten landete. Wankend stieg Scott aus.
Vom Schlafmangel hatten seine Augen einen verschleierten Blick. Neben Aleksandr Zivonik und seinem ältesten Jungen taumelte er aufs Haus zu. Scott wünschte sich auf der Welt nichts mehr, als sich auf eine Matratze zu legen und später sehr lange in sehr viel sehr warmem Wasser einzuweichen. Schlaftrunken blinzelnd empfingen die Zivonik-Kinder sie an der Tür. Irina Kisaevna trat einen Moment später zu ihnen. Sie wirkte so wunderbar schläfrig und schön zugleich, dass sie den Schleier des Entsetzens vertrieb, der Scott seit seiner Entdeckung angehaftet hatte.
»Wie geht es Evelina?«, fragte Aleksandr, dessen Stimme rau war von Erschöpfung.
»Sie schläft. Lew auch.«
Aleksandr nickte nur.
Irina küsste ihren Bruder auf die Wange und sagte: »Geht zu Bett, ihr beiden. Ich kümmere mich um Scott.«
Der große Farmer wünschte ihnen eine gute Nacht, dann ging er schlafen. Irina nahm Scott beim Arm und küsste ihn, obwohl die beiden Baumkatzen sie anstarrten, und sie küsste ihn nicht etwa auf die Wange. Irina schmeckte nach Zuhause, nach Wärme und nach Normalität; Scott zog sie näher an sich. Für einen Augenblick dachte er nicht an Mord oder Autopsien oder noch vorzunehmende Untersuchungen. Beide Baumkatzen auf seinen Schultern summten besorgt.
»Ihr seid
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