Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
die Richtung auf eine Landkarte von Sphinx’ übertrug. Ein Bergbauunternehmen, das fast vollautomatisch arbeitete, einige Farmen – und die Forschungsanlage von BioNeering. Der Frachttransporter hatte BioNeering gehört, die Absturzopfer waren bei BioNeering angestellt gewesen. Das vertraute Firmenzeichen trat ihm vor Augen: der sich ausbreitende Pfostenbaum, dessen Knotenstamm durch die Doppelhelix der DNA gebildet wurde. Scott benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass er sich nicht an das Logo erinnerte, das er beim letzten Mal gesehen hatte, zerkratzt und fast unkenntlich auf dem Rumpf des Wracks. Vielmehr sah er es als Wappen auf der Seite eines langgestreckten, niedrigen Gebäudes, von dem er genau wusste, dass er es noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Wie ein Guss Eiswasser überkam ihn die Erkenntnis, dass alle Pfostenbäume in der Nähe dieses Geländes tot waren – ihre Äste waren kahl, und ihre Rinde hing in leprösen Streifen herab.
Scott stand, bevor er überhaupt begriff, dass er aufgesprungen war. Er atmete heftig. Sein Magen hatte sich schmerzhaft verknotet. Dort musste es zu einem Störfall gekommen sein. Eine Substanz war freigesetzt worden und hatte das Pfostenbaumgehölz rings um die Anlage vernichtet. Und wer immer diese Anlage leitete, ermordete lieber seine Angestellten als zuzulassen, dass dieser Fehler bekannt wurde. Wie weit musste der Schaden mittlerweile reichen? Und was, in Gottes Namen, war dort freigesetzt worden? War es wirklich ein Unfall gewesen? Es war doch wohl niemand so verstiegen, so wahnsinnig gewesen, einen unerprobten manipulierten Organismus absichtlich in die Umwelt zu entlassen und damit grundlegend gegen die Elysäische Regel zu verstoßen? Auf dem Planeten Elysium war nach einem solchen unbesonnenen Eingriff das gesamte Ökosystem zusammengebrochen.
Scott würde nicht untätig zusehen, wie das Gleiche auf Sphinx geschah!
Noch während er mit geballten Fäusten und krampfartig zusammengebissenen Kiefern im schwachen Flackerlicht des Lagerfeuers stand, kam ihm der Gedanke, dass die drei Mordopfer auf der Lichtung vermutlich genau den gleichen Entschluss gefasst hatten. Und irgendwo auf dieser Welt wartete jemand mit einem kranken Geist und Blut an den Händen nur darauf, dass Scott und das Bergungsteam heimkehrten. Diese Person hatte bereits einmal gemordet. Sie würde erneut töten, um sich zu schützen, sobald jemand begann, sich mit dem dunklen Geheimnis hinter diesem Absturz zu befassen.
Doch Scott würde Täter und Motiv eruieren, ganz gleich, was dazu nötig wäre. Er würde die Wahrheit erfahren! Diese Baumkatzen hatten das Unmögliche möglich gemacht, um die Menschheit von ihrer Bedrängnis zu unterrichten. Scott hatte nicht vor, sie zu enttäuschen.
Als er seine Umgebung wieder wahrnahm, stellte er fest, dass die braune Baumkatze ihm tief in die Augen blickte. Etwas wie grimmige Freude drang auf Scott ein, und er begriff, dass sie ihm diese Empfindung sandte. Von allen Seiten hallte das Gefühl wider, von Hunderten von Baumkatzen, die ihn alle intensiv ansahen und seinen Blick suchten.
»Ich weiß nicht, wer es war«, sagte er mit ruhiger, harter Stimme direkt zu der Baumkatze mit den fichtennadelgrünen Augen, »und ich weiß nicht, wie er oder sie es getan hat. Aber das werde ich herausfinden, das schwöre ich bei Gott. Wie immer du es zuwege gebracht hast, mir Bescheid zu geben, ich danke dir dafür.«
Er wandte sich ab und stapfte durch die einsetzende Nacht davon. Über sich hörte er Laub rascheln und wusste, dass die versammelten Baumkatzen ihn zurück an den Rand der Lichtung eskortierten. Er musste vorsichtig sein, so viel war ihm klar; bei einer Situation, die so viele Möglichkeiten zur Eskalation bot, bei einem dreifachen Mord, in den sich Baumkatzen einschalteten, musste er sich mit äußerster Umsicht bewegen, bis er die Tat stichhaltig beweisen konnte. Die möglichen Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den beiden Spezies waren unüberschaubar. Auf keinen Fall durfte er seinen Verdacht einfach ausplaudern. Er musste Beweise sammeln, von denen sich die manticoranischen Behörden überzeugen ließen, und durfte sich auf keinen Fall auf nebulöse Eindrücke berufen, die er von Baumkatzen empfangen habe. Und schon gar nicht konnte er berichten, er habe von der Bluttat mittels intuitiver Verdachtsmomente und medialer Bilder erfahren, die er durch Gedankenlesen erhielt. Man würde so lange über ihn lachen, bis er Sphinx verließ.
Weitere Kostenlose Bücher