Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
Traum-Sucher – tut sie, was sie will!
»Mir gefällt es immer noch nicht«, brummte Henry Thoreau, aber diesmal war er aus Vorsicht so leise, dass nicht einmal Krogman ihn hätte hören können – wenn er denn bei ihm gewesen wäre. Der große Mann schnaubte. Für Erörterungen, was ihm gefiel oder nicht, war es viel zu spät. Ein uraltes Sprichwort über abgebrochene Brücken geisterte ihm wieder durch den Kopf, aber er achtete kaum darauf. Von seiner gegenwärtigen Beschäftigung durfte er sich nicht ablenken lassen.
Niemand, der ihn dabei beobachtet hätte, wie er auf der Parkbank saß und das Printexemplar einer Zeitung las, wäre auf den Gedanken gekommen, seine Nerven könnten bis zum Zerreißen gespannt sein. Die Reste eines einfachen, aber schmackhaften Mittagessens, das er sich bei einem Imbissstand am Gehweg gekauft hatte, lagen neben einem hohen Glas mit Zitronenlimonade vor ihm auf dem Tisch, und wenn er umblätterte, blickte er beiläufig auf die Armbanduhr.
Der schattige Park, der an das Hauptquartier des Sphinxianischen Forstdienstes angrenzte, bot sich für einen gemütlichen Mittagsimbiss ideal an. Heute war er sehr belebt, denn vor vier Stunden hatte man die Öffentlichkeit vom bevorstehenden Besuch der Kronprinzessin Adrienne in Kenntnis gesetzt, und viele Einwohner Twin Forks’ hatten sich eine lange Mittagspause genommen. Seit einer Stunde trafen immer wieder Menschen aus den entfernteren Ansiedlungen ein. Städtische Arbeitscrews überwachten Maschinen, die in Windeseile Tribünen errichteten. Die Tribünen sollten den Untertanen des Sternenkönigreichs einen besseren Blick auf die zukünftige Monarchin bieten, und auf ihnen konnten sie in Ruhe der Ansprache zuhören, die zweifellos jemand für die Thronfolgerin geschrieben hatte. Noch aber zog der Park vor dem Zaun des SFD die meisten Wartenden an.
Thoreau gestattete sich ein innerliches Feixen und fragte sich, ob es ihn eher beruhige oder ängstige, dass ihr Auftraggeber den echten Reiseplan der Prinzessin tatsächlich hatte beschaffen können. Einerseits war diese Information unschätzbar wertvoll, andererseits warf gerade diese Fähigkeit ihres Auftraggebers, sich solch streng gehütete Geheimnisse zu besorgen, ein sehr unheildrohendes Licht auf die Möglichkeiten, die ihm insgesamt zur Verfügung stehen mussten. Denn wenn jemand, der solch ein Vorhaben in die Wege leiten konnte, beschloss, alle Risiken auszuschalten …
Hör auf damit! , unterbrach er sich heftig. Jean-Marc hat die üblichen Vorkehrungen getroffen, das tut er immer. Wenn uns irgendwas geschieht, dann steht unsere Versicherungspolice plötzlich im öffentlichen Datennetz, und dann kommt die Kacke schwer ins Dampfen.
Ja, das würde sie. Thoreau bezweifelte zwar, dass Krogman und er große Befriedigung daraus ziehen würden, wenn ihr Auftraggeber nach ihrem Tod die gleichen Probleme bekäme, aber darum ging es dabei auch gar nicht. Und jetzt hatte er einen Job zu erledigen.
Oberflächlich betrachtet war es eine einfache und sinnlos anmutende Aufgabe, besonders für jemanden, der so versiert darin war, Gewalt anzuwenden, wie er. Doch so geschliffen seine Talente waren, heute würde er sie nicht benötigen. Für seine gegenwärtige Aufgabe besaß er eine andere, einzigartige Qualifikation: die Anonymität. Trotz einer recht farbigen Vergangenheit in gewissen anderen Gerichtsbarkeiten und unter anderen Namen war er im Sternenkönigreich von Manticore ein unbeschriebenes Blatt, ein unbescholtener Bürger. Das – und das hellrote Taschentuch in seiner Brusttasche – war alles, worüber er verfügte. Und dank der Kenntnisse, die Krogman in ihre Partnerschaft eingebracht hatte, benötigte er für sein Attentat auf die manticoranische Thronfolgerin auch nicht mehr.
»Willkommen beim SFD, Königliche Hoheit.« Ein hochgewachsener, rothaariger Mann in der braun-grünen Uniform des Forstdienstes verbeugte sich vor Adrienne, während sie aus dem Flugwagen stieg. An dem Barett trug er die aufgerichtete Mantichora, das Wappentier des Sternenkönigreichs, doch das Abzeichen auf dem rechten Oberarm zeichnete den Umriss einer Baumkatze nach. Der goldene Stern auf dem Kragen wies ihn als Lieutenant General William MacClintock aus, den Befehlshaber des SFD und augenblicklichen Leiter der Sphinxianischen Forstbehörde.
Adrienne reichte ihm die Hand und lächelte, wie man es sie schon in ihrer Kindheit gelehrt hatte, doch fiel es ihr schwerer als gewöhnlich. Lag es an dem
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