Honor Harrington 12. Die Raumkadettin von Sphinx
ganz anders. Vermutlich lag das an den sechsundvierzig grimmig dreinblickenden, bis an die Zähne bewaffneten Marines an Bord. Honor saß neben Lieutenant Commander Hirake im rückwärtigen Teil der Passagierabteilung und beobachtete durch das Fenster, wie die Pinnasse die letzten wenigen hundert Kilometer zwischen der War Maiden und der Gryphon’s Pride zurücklegte. Rasch schwoll der große Frachter an, dem sie sich von achtern näherten; der Pinassenpilot schaltete den Keil ab und auf Schubantrieb um, dann umkreiselte er den riesigen Frachterrumpf in einer weiten Spirale.
Honor und Hirake waren in das Signalnetz der Marines eingebunden. Niemand sagte etwas Überflüssiges, und Honor spürte die Intensität, mit der jene Marines (allesamt kampferprobt), die in den Genuss eines Fensterplatzes gekommen waren, zum Frachter hinausstarrten. Dann meldete sich der Pilot.
»Ich sehe Treibgut, Major«, sagte er mit klangloser, nüchterner Stimme. »Von Ihnen aus zehn Uhr oben.« Einige Sekunden des Schweigens folgten, dann: »Sieht aus wie Leichen, Ma’am.«
»Ich sehe sie, Coxswain«, erwiderte McKinley ausdruckslos. Honor saß auf der falschen Seite der Pinnasse und konnte daher durch ihr Fenster nichts erkennen, was weiter vorn lag, auch nicht, wenn sie sich vorlehnte. Im ersten Moment war sie enttäuscht, dann aber überfiel sie eine Dankbarkeit, dass ihr durch ihre unglückliche Platzwahl dieser Anblick erspart blieb. Sie würde sich geschämt und schmutzig gefühlt haben, wenn Hirake und die Marines sie ertappt hätten, wie sie den Hals reckte und die Leichen wie ein Schaulustiger oder Nachrichtenzombie anstierte.
»Nähern uns der Steuerbord-Mittschiffsluke, Ma’am«, meldete der Pilot einige Minuten später. »Sieht aus, als wären die Laderäume noch immer druckfest, aber die vordere Personenschleuse steht offen. Soll ich an der Öffnung andocken?«
»Nein, wir gehen nach Vorschrift vor«, antwortete McKinley. »Halten Sie Position in zwohundert Metern Entfernung.«
»Ave, aye, Ma’am.«
Der Pilot brachte die Pinnasse relativ zum Frachter zum Stillstand, die Spitze des pfeilförmigen Flügels exakt zweihundert Meter vom Rumpf entfernt, und Sergeant-Major Kutkin erhob sich aus seinem Sitz und richtete sich zu seiner vollen Größe von zwei Metern auf. Lieutenant Blackburn folgte ihm mit weniger als einer Sekunde Abstand, und Kutkin sah mit zustimmender Kommandantenmiene zu, als der Lieutenant sich an seinen Zug wandte.
»Also schön, Marines, jetzt geht’s los. Carras, Sie gehen voran. Janssen, Sie übernehmen die Nachhut. Der Rest von euch kennt seine Position, wir haben es ja oft genug geübt.« Er wartete einen Moment und sah dabei zu, wie zwei oder drei seiner Soldaten ihre Position korrigierten, dann grunzte er zustimmend. »Helm auf und los.«
Honor löste ihren Helm vom Tragehaken an ihrer Anzugbrust und setzte ihn auf. Mit einem zusätzlichen Ruck drehte sie ihn fest, um sicherzugehen, dass er ordentlich saß, dann hob sie den linken Arm und drückte auf ihrem Armeltastenfeld einen Knopf.
Augenblicklich leuchtete ihr Helm-HUD auf, und sie überprüfte automatisch die Anzeige, die ihr die ordnungsgemäße Helmabdichtung bestätigte, sowie die Digitalanzeige für ihren Sauerstoffvorrat. Beide Werte lagen im Sollbereich, und sie nahm ihren Platz ein – wie es sich für ihren niedrigen Rang geziemte: ganz am Ende der Schlange vor der Backbordluke. Angesichts einer so hohen Menge von Bord gehender Soldaten machte sich die Flugbesatzung nicht die Mühe, sie auszuschleusen. Stattdessen wurde die Außenluke geöffnet, und die Atemluft entwich ins All. Einige Sekunden lang spürte Honor den Druck der ausströmenden Luft, dann aber ließ das Gefühl von unsichtbar an ihr zerrenden Händen nach, und die Audioempfänger ihres Anzugs übermittelten ihr die absolute Stille des Vakuums.
Corporal Carras – der gleiche Corporal, der, wie Honor nun plötzlich erkannte, an der Zugangsröhre der War Maiden Wache gestanden hatte, als sie an Bord ging – stieß sich von der Pinasse ab. Er trieb vier bis fünf Meter vor, dann, als er sicher war, den erforderlichen Sicherheitsabstand zur Pinasse erreicht zu haben, schaltete er die Anzugsdüsen zu. Sanft beschleunigte er in Richtung des Frachters, wobei er seine Düsen mit der geübten Anmut eines großen Raubvogels einsetzte, und der Rest seiner Gruppe folgte ihm.
Trotz ihrer augenscheinlichen Erfahrung dauerte es eine Weile, bis alle Marines die Luke für
Weitere Kostenlose Bücher