Honor Harrington 5. Im Exil
Schiffes ins Heimatsystem zu transportieren.
Eigentlich hatte sie erwartet, einem Mann gegenüber Verachtung zu empfinden, der seine Geburtsnation im Stich ließ, doch überraschenderweise war das nicht der Fall. Die Volksrepublik gehörte nun nicht gerade zu den Sternnationen, die in ihren Untertanen Loyalität weckten, und Yu war besser, als Haven es verdiente. Honor hatte sich nach der Heimreise eingehend mit seiner Akte befaßt. Daß jemand mit einem kühlen, unabhängigen Verstand wie er es geschafft hatte, sich in der Volksflotte bis zum Captain hochzudienen, wunderte sie noch immer. Yu war ein Denker, niemand, der sich blindlings in einen Kampf einließ, also genau die Sorte Offizier, dessen Unabhängigkeit in einer Bürokratie wie der havenitischen rasch störte. Sein Verlust hatte der Volksrepublik dennoch schwer geschadet. Nicht nur hatte die Volksflotte einen ihrer besten Kommandanten verloren, er bot dem Office of Naval Intelligence, dem Nachrichtendienst der manticoranischen Navy zudem einen schier unerschöpflichen Schatz an Informationen. Tatsächlich hatte Honor angenommen, Yu sei noch immer irgendwo im Sternenkönigreich versteckt, wo das ONI und die Admiralität sofortigen Zugang zu seinem Wissen aus erster Hand über die Volksflotte hätten.
Aber er war hier, und Honor biß sich in die Oberlippe. Sollte sie darüber froh sein? Ein Mann wie Alfredo Yu mochte sich als unersetzlich erweisen – aber war ihm zu trauen? Und konnte sie vergessen, wie viele Gründe sie hatte, ihn zu hassen?
Sie seufzte auf, und Nimitz gab seinem Unbehagen leise Ausdruck. Er verschob sich auf ihrem Schoß, als sie sich für den letzten Gedanken tadelte. Man konnte Yu nicht vorwerfen, daß er den Befehl befolgte, Grayson für Masada zu erobern. Er hatte seine Pflicht erfüllt, wie sie es hoffentlich ebenfalls getan hätte. Auf einer intellektuellen Ebene kam sie damit zurecht, aber vom Gefühl her fragte sie sich, ob sie ihm jemals wirklich vergeben konnte, den Hinterhalt geplant und ausgeführt zu haben, in dem Admiral Raoul Courvosier getötet und HMS Madrigal vernichtet worden war.
Hinter ihren Augen stieg ein heißer, vertrauter Schmerz auf, und sie wußte gleichzeitig, daß ihr Haß auf Yu der Überzeugung entsprang, daß ihr Verhalten unmittelbar zu Courvosiers Tod geführt hatte. Der Admiral und Honor hatten keinen Grund zu der Annahme gehabt, eine havenitische Operation gegen Grayson könne unmittelbar bevorstehen. Weder das ONI noch der graysonitische Geheimdienst hatten diesbezüglich irgendwelche Erkenntnisse besessen. Honors Entscheidung, den Großteil ihres Geschwader aus dem Jelzin-System abzuziehen und nur die Madrigal zu Courvosiers Unterstützung zurückzulassen, hatte angesichts der diplomatischen Situation durchaus Sinn ergeben, und niemand hatte ahnen können, daß es noch andere Faktoren zu berücksichtigen gab. Eigentlich bestand kein Grund, weshalb sie sich die Schuld an den letztlich resultierenden Ereignissen geben sollte … aber sie tat es und würde es immer tun, denn Raoul Courvosier war ihr mehr gewesen als nur ein Vorgesetzter. Er war ihr Mentor gewesen und hatte sich eines schüchternen, im Umgang mit anderen Menschen unbeholfenen Mädchens mit einer fürchterlichen Schwäche in Mathematik angenommen und aus ihr einen Offizier der Königin gemacht. Und während dieser Entwicklung waren seine Standards über Berufssoldatentum und Verantwortungsgefühl auf sie übergegangen. Bis zu seinem Tode hatte Honor nicht begriffen, daß sie ihn nicht nur zutiefst respektierte, sondern auch liebte.
Und Alfredo Yu hatte ihn getötet. Innerlich erschauerte sie, als sie sich an den verzehrenden Haß erinnerte, den sie damals bei Yus Anbordkommen empfunden hatte. Sie hatte sich überwunden und ihn mit der Höflichkeit behandelt, die er aufgrund seines Dienstgrades auch im Exil erwarten durfte, aber das war ihr sehr schwergefallen. Und er hatte ihren Haß gespürt, wenngleich er ihn sich nicht erklären konnte. Die Reise nach Manticore war für beide anstrengend gewesen, und selbst in ihren wildesten Träumen hätte Honor nicht damit gerechnet, einmal mit Yu in der gleichen Navy zu dienen – und schon gar nicht, ihn als Kommandanten ihres ersten Superdreadnought-Flaggschiffs vorzufinden!
Yu gab ihren Blick kühl zurück, als teile er Nimitz’ Fähigkeit, Honors Emotionen wahrzunehmen. Mit heulenden Turbinen erhob sich die Pinasse auf ihrem Kontragravfeld; zwischen Honor und Yu schwebte ein Keil des
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