Honor Harrington 5. Im Exil
Gefangenen ermorden würden. Aber es ließ sich nicht ableugnen, daß von allen gefangengenommenen weiblichen Besatzungsmitgliedern der Madrigal nur Mercedes Brigham und Ensign Mai-ling Jackson die unfaßbaren Massenvergewaltigungen und die brutalen Prügel überlebt hatten, die in masadanischer Kriegsgefangenschaft an der Tagesordnung gewesen waren. Mercedes war fast tot gewesen, als Honors Marines sie aus den Ruinen der Blackbird-Basis bargen. Wenn es für Honor schon so schwierig war, ihre Gefühle zu definieren, wenn Yu unter ihrem Kommando stand – um wie vieles schwerer mußte es dann für Mercedes sein, mit ihm zu dienen? Besonders hier, wo so vieles nur darauf wartete, sie an die durchlittene Hölle immer wieder zu erinnern?
Honor erschauerte, als sie bei dem bloßen Gedanken ein Stich durchfuhr. Ihre eigenen Verletzungen bereiteten ihr schon so viel Pein – wie in Gottes Namen kam Mercedes mit ihren Alpträumen zurecht? Honor mußte sich fragen, ob sie überhaupt das Recht besaß, Mercedes Brigham jeden Tag mit dem Mann zusammenzubringen, der letztendlich – unwissend zwar, aber was spielte das für eine Rolle? – für die Schreckgespenster dieser Alpträume verantwortlich war?
Honor schloß die Augen und strich Nimitz sanft und liebkosend über den Rücken, die Wirbelsäule entlang. Ihre Instinkte schrien im Chor, Yus Angebot um Himmels willen anzunehmen und ihn ablösen zu lassen, aber ihr professionelles Urteil brüllte ebenso stur dagegen an – Yu sei zu wertvoll und zu nützlich, um einfach fortgeschickt zu werden. Sie biß sich auf die Lippe, während in ihr die Unentschlossenheit fraß wie ätzende Säure – oder wie der Beweis, daß die Zweifel an ihrer Stärke vollkommen gerechtfertigt gewesen waren.
Sie kniff die Augen noch fester zusammen und mühte sich, die Konfusion aus ihren Gedanken zu vertreiben und die unbeteiligte Logik heraufzubeschwören, die auf Kommandoentscheidungen anzuwenden Admiral Courvosier sie gelehrt hatte. Dann, fast gegen den eigenen Willen, trat Honor wieder Mercedes Brighams Gesicht vor Augen, und sie sah das schmale Lächeln, das Mercedes ihr zugeworfen hatte, als sie den anderen den Zutritt zu den Sitzen hinter Honor und Captain Yu verwehrte. Ihre Stabschefin hatte die Plätze blockiert, begriff Honor, weil sie wußte, was Yu ihr zu sagen hatte – und sie hatte ihm den Raum und die Abgeschiedenheit gewähren wollen, damit er frei sprechen konnte.
Die Erinnerung an Mercedes’ Lächeln beruhigte die wogenden Fluten ihrer Gefühle. Honors Fragen waren dadurch zwar noch nicht beantwortet, aber auf irgendeine Weise waren es wieder nur Fragen, und kein Morast mehr aus widersprüchlichen Instinkten, der sie zu verschlingen drohte. Sie öffnete die Augen und blickte Yu ins Gesicht.
»Ich verstehe«, sagte sie schließlich und folgte mit der Hand Nimitz’ Wirbelsäule nach oben, um ihn hinter den Ohren zu kraulen, »in welch unerquicklicher Lage Sie sich befinden, Captain, und wie schwierig es für Sie gewesen sein muß, mir zu sagen, was Sie mir gerade gesagt haben. Ihre offene Direktheit verdient meinen Respekt, und ich habe sie sehr begrüßt. Trotzdem haben Sie recht. Ich empfinde gegen Sie in der Tat eine innere Reservation, das wissen Sie so gut wie ich. Andererseits«, und sie rang sich ein schmales Lächeln ab, »sind Sie, Captain Brigham und ich alle Neuankömmlinge auf Grayson, und jeder von uns hat persönliche Gründe, hier zu sein. Vielleicht sollten wir gemeinsam einen neuen Anfang versuchen.«
Sie unterbrach sich, legte den Kopf schräg, blickte ihn mit ihren schokoladenbraunen Augen gespannt an und zuckte mit den Achseln.
»Ich werde an Ihr Angebot denken und darüber grübeln, Captain Yu. Wenn ich eins weiß, dann, daß Sie viel zu wertvolles Material sind, als daß ich es wegwerfen sollte. Sie verdienen von mir die gleiche Offenheit, wie Sie sie mir gegenüber bewiesen haben. Deshalb will ich unverhohlen sagen, daß alle Probleme, die bei unserer Zusammenarbeit vielleicht auftauchen, aus persönlichen Gründen entstehen werden, aber nicht, weil ich bezüglich Ihrer Kompetenz Vorbehalte hege. Ich sage mir gern, daß ich Berufssoldat genug bin, um die Vergangenheit hinter mir zu lassen und nur die Gegenwart zu beachten, aber ich bin auch nur ein Mensch. Sie wissen so gut wie ich, wie wichtig das Vertrauensverhältnis zwischen Admiral und Flaggkommandanten ist. Wie Sie selbst sagten, wußte ich nicht einmal, daß Sie die Terrible bekommen haben, also
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