Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
erkannt, welchen Grad an Schulung es erforderte. Er besaß doch diese Fähigkeiten nicht, und allein der Gedanke war einfach albern, daß er eine solche Leistung auch nur annähernd erzielen könnte, bevor Steilman das nächste Mal versuchte, ihm den Schädel einzuschlagen. Er sollte sich umdrehen und …
»Tut mir leid, daß ich zu spät komme, mein Junge.« Aubrey wäre fast einen halben Meter in die Luft gesprungen, als ihm die fleischige Hand von hinten auf die Schulter klatschte. Mit einem Keuchen fuhr er herum, und Horace Harkness grinste ihn an. »Schon wieder ganz schön beweglich, Wanderman. Die Schnellheilung hat deinen Rippen wohl gutgetan?«
»Äh, jawohl, Senior Chief«, stieß Aubrey hervor.
»Gut! Komm mit, mein Junge.«
Aubrey erwog Harkness mitzuteilen, er habe es sich anders überlegt, aber er brachte die Worte einfach nicht heraus und empfand vages Erstauen darüber, wie wichtig es ihm war, den Respekt des Senior Chiefs nicht zu verlieren. Stolz , dachte er. Wie viele Menschen sind im Laufe der Jahrtausende wohl wegen falsch verstandenem Stolz grün und blau geprügelt worden?
Als Harkness einem Hünen in einem ausgeblichenen Trainingsanzug zuwinkte, erwachte Aubrey aus seinen trüben Gedanken. Der Schwarzhaarige mit den dunklen Augen ragte wenigstens zwei Meter hoch auf, und seine schweren Brauen wuchsen auf dem Nasenrücken ineinander. Sein dunkles Gesicht war wettergegerbt, die Schultern beinahe grotesk breit, die Handrücken waren behaart und sahen aus wie Frachtklammern. Aber er bewegte sich mit einer trägen Anmut, die gar nicht zu einem großen Mann wie ihm passen wollte.
»Harkness.« Wie die Bosun besaß auch der riesige Marine einen deutlichen gryphonischen Akzent, und seine Stimme war sogar noch tiefer als die des Senior Chiefs. Außerdem klang sie leise, beinahe sanft, so als müßte ihr Besitzer sie nur sehr selten erheben.
Harkness nickte ihm zu. »Gunny, das hier ist Wanderman. Er hat ein kleines Problem.«
»Hab’ ich schon gehört.« Nachdenklich musterte der schwarzhaarige Mann Aubrey, der unwillkürlich die Schultern straffte, als er begriff, wem er gegenüberstand. Die Royal Manticoran Marines verwendeten den Dienstgrad des Gunnery Sergeant schon lange nicht mehr, aber ihr dienstältester Unteroffizier an Bord jedes Schiffes der Königin wurde noch immer mit der uralten Anrede ›Gunny‹ tituliert, und deshalb konnte dieser Gigant niemand anders als Battalion Sergeant-Major Lewis Hallowell sein – bei den Marines das Gegenstück eines Bosuns.
»Ach, lassen Sie das, Wanderman«, knurrte der Sergeant-Major. Als Aubrey verwirrt blinzelte, grinste Hallowell. Plötzlich wirkte das dunkle, wettergegerbte Gesicht wie das eines zu Streichen aufgelegten kleinen Jungen, und Aubrey spürte, wie seine eigenen Lippen zuckten. Mit Mühe entspannte er seine Haltung. »Besser«, stellte Hallowell fest. »Sie sind unter Freunden – und das, obwohl Sie von diesem elenden alten Deckschrubber vorgestellt wurden.«
Aubrey blinzelte wieder, aber Harkness’ einzige Reaktion bestand darin, den Sergeant-Major anzugrinsen, welcher schnaubte, bevor er sich wieder Aubrey zuwandte. Er wies auf einen Stapel Matten, und Aubrey setzte sich folgsam darauf nieder. Hallowell ging in einer fließenden Bewegung vor ihm in die Hocke, stützte auf jedes Knie eine Faust und beugte sich vor.
»Also schön, Wanderman«, sagte er forsch, »ich werde Ihnen nur eine Frage stellen: Wie ernst ist es Ihnen damit?« Aubrey wollte Harkness fragend ansehen, aber Hallowell schüttelte scharf den Kopf. »Sehen Sie nicht auf den Senior Chief. Ich will von Ihnen wissen, wie ernst es Ihnen ist.«
»Ich … ich weiß gar nicht, was Sie meinen, S … Gunny«, entgegnete Aubrey nach einem Augenblick.
»So kompliziert ist es doch gar nicht«, erklärte Hallowell geduldig. »Unser Harkness dort hat mich über Ihr kleines Problem in Kenntnis gesetzt. Ich kenne Typen wie Steilman und weiß deshalb, wie tief Sie in der Tinte sitzen. Von Ihnen will ich wissen, ob es Ihnen ernst ist, sich wieder aufzurappeln, denn das wird eine Menge Arbeit bedeuten, und keine leichte. Sie werden viel Zeit mit Schwitzen verbringen und noch mehr mit Stöhnen über Ihre blauen Flecken, und nicht allzu selten werden Sie sich fragen, ob Harkness und ich nicht schlimmere Feinde sind als Steilman. Wenn Sie kneifen wollen, dann sollten Sie das jetzt sagen – und wenn nicht, dann sollten Sie sich warm anziehen und zusehen, daß Sie Ihre Worte
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