Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
hatte zudem noch eine Gutsherrin an Bord, und das hätte nun wirklich jeden Skipper nervös gemacht.
Honor begriff Commander Tinsdales Gefühle, und deshalb hatte sie sein respektvolles Angebot, für das Dockmanöver zu ihm auf die Brücke zu kommen, auch höflich abgelehnt, obwohl sie zu gern dabei gewesen wäre. Trotz der Länge ihrer Laufbahn in der Navy, oder vielleicht gerade deswegen, verspürte sie ein beinahe sinnliches Vergnügen, wenn sie ein gut ausgeführtes Manöver beobachtete, mochte es noch so sehr Routine sein. Aber Tinsdale hatte es einfach nicht verdient, daß eine Angehörige des Hochadels, die zudem noch den Rang eines Admirals bekleidete, ihm ihren Atem in den Nacken hauchte, während er unter erhöhtem Druck arbeitete. Deshalb saß sie in ihrer Kabine vor dem Bildschirm. Mit glatter Präzision setzte sich der Bug der Nathan an die Stelle, an die er gehörte, aber Honor bemerkte, daß sie trotz aller Konzentration nicht so aufmerksam zuschaute wie sonst, und versuchte daher zu analysieren, was in ihr vorging.
Nach achtzehn Monaten in der Uniform der Graysons, die in zwei Blautönen gehalten war, fühlte sich das Schwarz und Gold der RMN fremd an. Honor war überrascht, wie sehr ihr die breiten goldenen Ärmelstreifen und die Kragensterne ihres graysonitischen Ranges fehlten. Es war … merkwürdig, plötzlich wieder ein »gewöhnlicher« Captain Senior Grade zu sein, und ohne die schwere Goldkette mit dem Schlüssel von Harrington um den Hals kam sie sich nicht völlig angezogen vor. Sie trug das blutrote Band des Sterns von Grayson wie auch das Manticorekreuz, das CGM und ein halbes Dutzend weiterer Orden. Ein wenig kam sie sich vor, als wäre sie der Werbeseite eines Juweliers entsprungen, aber sie trug Galauniform, und das Reglement sah für die Galauniform echte Orden vor – einschließlich der ausländischen Auszeichnungen – und nicht nur die Ordensbänder. Aber der Schlüssel war keine Auszeichnung, sondern Zeichen ihres Standes als Gutsherrin von Harrington: Mitglied der Regierung und in gewisser Weise sogar Staatsoberhaupt; die Bekleidungsvorschriften der RMN sahen indes die Abzeichen ausländischer Herrscher nicht vor.
Honor wußte, daß sie darauf hätte bestehen können, den Schlüssel zu tragen, hatte jedoch auf keinen Fall die Absicht. Sie war mit sich selbst nicht im reinen über den Grund, aus dem sie auf diese Forderung verzichtet hatte. Zu ihrer tiefen Verlegenheit hatte Protector Benjamin nämlich auf einer Erweiterung des Königlichen Erlasses bestanden, in dem festgestellt wurde, daß Captain Harrington und Gutsherrin Lady Harrington zwei verschiedene Personen seien, die zufällig im gleichen Körper lebten. Mit dem Zusatz zu dem Erlaß, der die Anwesenheit von Honors Waffenträgern autorisierte und ihnen diplomatische Immunität zusicherte, hatte der Protector sich nicht zufriedengeben wollen und statt dessen darauf bestanden – nein, gefordert , daß Honors gespaltene legale Persönlichkeit offiziell und unwiderruflich anerkannt wurde. Captain Harrington unterlag dem Reglement und den Bestimmungen der Kriegsartikel, aber die Gutsherrin von Harrington war ein befreundetes Staatsoberhaupt auf Besuch, das wie ihre Leibwachen diplomatische Immunität genoß. Am liebsten hätte Honor diesen Erlaß und alle daraus möglicherweise resultierenden Komplikationen still und heimlich in Vergessenheit geraten lassen, aber Benjamin war eisern geblieben. Er hatte sich rundheraus geweigert, sie von ihren Pflichten auf dem Gut Harrington zu entbinden, solange der Erlaß nicht erweitert und erneuert worden war, und so war es dann auch gekommen.
Offiziell fußte seine Unnachgiebigkeit auf dem graysonitischen Gesetz, daß jeder Gutsherr jederzeit von seinen (oder in Honors Fall ihren) Waffenträgern begleitet werden mußte. Da allen Ausländern das Tragen von Waffen in Schiffen der Königin durch die Kriegsartikel verboten war, hatte es einer Änderung im manticoranischen Gesetz bedurft, damit Andrew LaFollet und seine Untergebenen ihre Pulser behalten durften. Das war der Grund, der offiziell bekanntgegeben wurde – tatsächlich hatte Benjamin es darauf angelegt, dem gesamten Oberhaus Honors Status unter die Nase zu reiben. Trotz der Vielzahl von Diplomaten, die mit Benjamin die Bedingungen ausgehandelt hatten, handelte es sich kaum um eine diplomatische Abmachung. Ob die Peers des Sternenkönigreichs es nun zugeben wollten oder nicht, ein Gutsherr übte eine direkte, persönliche
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