Honor Harrington 8. Die Siedler von Sphinx
gab, das man auf dreißig Meter garantiert unmöglich überhören konnte –, dann hätte Stephanie es mittlerweile schon beantworten müssen. Wenn sie es unterließ, musste sie einen Grund haben, und keiner der beiden Harringtons brachte den Mut auf auszusprechen, worin dieser Grund durchaus bestehen konnte.
»Hol du den Arztkoffer«, sagte er schließlich rau. »Ich hole den Wagen aus der Garage.«
Stephanie Harrington konnte das Signal des verlorenen Comgeräts nicht hören, denn es baumelte mehr als fünfzig Meter über ihr an einem Aststumpf. Im Moment dachte sie überhaupt nicht an Coms, denn sie saß inmitten von mehr als zweihundert Baumkatzen. Sie hockten auf Ästen, hingen an Baumstämmen und kauerten mit ihr auf den feuchten Blättern. Zwei von ihnen drückten sich sogar an ihre Seiten, und alle sangen sie ein sanftes, langsames Lied für den blutigen, übel zugerichteten Pelzball, der vor Stephanie auf dem Boden lag.
Für die Gegenwart der Baumkatzen war sie sehr dankbar, denn diese Scharen von Wächtern konnten und würden sie vor allen anderen Raubtieren beschützen. Trotzdem beachtete Stephanie sie kaum, sondern konzentrierte sich verzweifelt ganz auf ihren Baumkater, als ob sie ihn durch schiere Willensanstrengung am Leben halten könnte. Noch immer beherrschten sie die Schmerzen in ihrem Arm, ihrem Knie und der Rippe sowie die letzten Nachwehen der Todesfurcht, und doch spielte all das kaum eine Rolle. Schmerz und Furcht waren da, und sie waren echt, aber nichts – rein gar nichts – war so wichtig wie der Baumkater, den sie mit grimmiger Fürsorge betrachtete.
Nur vage konnte sie sich daran erinnern, was geschehen war, nachdem die vielen neuen Baumkatzen von den Bäumen herabgeströmt waren. Das Vibromesser hatte sie abgestellt, aber nicht in die Scheide zurückgesteckt … Irgendwo hatte sie es fallen gelassen, aber das war nicht wichtig. Gezählt hatte nur, dass sie zu ihrem Baumkater gelangte.
Sie hatte gewusst, dass er noch lebte. Es war völlig unmöglich, das nicht zu wissen, doch gleichzeitig wusste sie, dass er sehr schwer verwundet war. Als sie sich neben ihm auf ihr unverletztes Knie sinken ließ, verkrampfte sich ihr Magen. Vor Schmerz wimmerte sie, doch das bemerkte sie kaum, während sie ihren Beschützer – ihren Freund – mit unüberlegter Eile furchtsam abtastete.
Seine rechte Flanke war blutgetränkt, und Übelkeit stieg in ihr auf, als sie sah, wie übel sein rechter Vorderlauf zugerichtet war. Die Geschwindigkeit, mit der der Kater Blut verlor, jagte Stephanie Angst ein. Obwohl es nicht pulsierend floss wie aus einer verletzten Arterie, rann es doch viel zu schnell und zu schwer. Stephanie kannte sich mit seiner Anatomie nicht aus, doch rasch hatte sie die gezackten Enden geborstener Rippen gefunden. Sein Mittelbecken war ebenfalls gebrochen, da konnte es keinen Zweifel geben. Allein bei dem Gedanken, was die vielen scharfen Knochenenden in seinem Leib angerichtet haben konnten, krümmte sie sich zusammen, doch daran konnte sie nun nichts ändern. Der zerschmetterte Vorderlauf bedurfte sofortiger Hilfe, und sie zupfte die Zugschnur aus der linken Manschette ihrer Flugjacke. Es erwies sich als außerordentlich knifflig, sie allein mithilfe des Mundes und einer Hand zu einer Schlinge zu binden, doch irgendwie gelang es ihr. Stephanie legte die Schlinge über das blutige Glied, schob die Schnur hoch, bis sie direkt über dem abgeschlitzten, zerfetzten Fleisch lag, und zog sie unter Zuhilfenahme ihrer Zähne zusammen. Dann schob sie einen Schreibstift unter die improvisierte Aderpresse und band den Lauf vorsichtig ab. Noch nie zuvor hatte sie dergleichen tun müssen und wusste im Grunde nur theoretisch, wie sie vorzugehen hatte. Einmal hatte sie beobachtet, wie ihr Vater das Gleiche bei einem Irish Setter vornahm, dem ein automatischer Ernteroboter das Bein abgerissen hatte.
Als der Blutfluss tatsächlich nachließ, sackte Stephanie vor Erleichterung zusammen. Er hörte sogar ganz auf. Natürlich war sie sich im Klaren, dass eine Unterbindung der Blutzufuhr in das zerstörte Gewebe dem Baumkater auf lange Sicht mehr schaden würde als nützen, doch wenigstens musste er nun nicht verbluten. Es sei denn, kam ihr der Gedanke, dass er außerdem unter inneren Blutungen litt, und sie musste mit aller Willenskraft die neue aufkeimende Panik unterdrücken.
Bewegen durfte sie den Baumkater nun auf gar keinen Fall, doch genauso wenig durfte er auf dem nassen, kalten Boden liegen
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