Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
konnten ausweichen, sich hinter ihren Impellerkeilen verstecken oder anderweitig verhindern, dass Raketen, die nicht mehr manövrieren konnten, sie als Ziele erfassten.
»Glauben Sie wirklich, dass die Havies so nahe herangehen?«, fragte jemand.
»Ja«, antwortete sie. »Sonst wären sie überhaupt nicht so weit systemeinwärts vorgedrungen. Wenn sie völlig sicher vor unserem Beschuss sein wollten, hätten sie die Transition weiter draußen vorgenommen, auf Maximalgeschwindigkeit beschleunigt und aus mehreren Lichtminuten Entfernung das Feuer eröffnet. Dann kämen ihre Vögelchen mit null Komma neun Ce oder mehr herein. Für unsere Feuerleitung wäre das viel zu schnell, und wir könnten sie niemals effektiv abfangen.«
»Und warum tun sie das nicht, Ma’am?«, fragte der gleiche Offizier.
»Weil sie noch nicht genau wissen, dass Camp Charon in Feindeshand ist, oder weil sie sich sorgen, unbeabsichtigt den Planeten zu treffen«, antwortete sie. »Für solche Angriffe stehen die Werfer der inneren Schale zu dicht über Hell. Selbst eine leichte Fehlfunktion in einem Annäherungszünder oder eine geringe Abweichung in der Feuerlösung genügt, und so eine Rakete trifft den Planeten. Wahrscheinlich machen die Schwarzbeine sich keine Gedanken, ob sie fünfzig- bis sechzigtausend Gefangene töten, aber sie wissen schließlich, dass auch eigene Leute am Boden sind. Wer immer das Kommando über diese Kampfgruppe hat, wird verhindern wollen, irrtümlich eigene Leute zu töten, und kennt vermutlich alle Details der Abwehranlagen. Folglich weiß man, wie schwach wir in Bezug auf Antiraketen und Nahbereichs-Abwehrwaffen sind; also kommt man bis knapp außer Reichweite heran, stoppt und bestreicht uns mit langsameren Raketen. Davon werden wir eine Menge aufhalten – wenigstens zu Anfang –, aber man braucht uns gar keine Volltreffer beizubringen, während wir umgekehrt darauf angewiesen sind.«
Noch mehr Köpfe nickten. Moderne Kriegsschiffe brauchten Naheinschläge nicht mehr zu fürchten – es sei denn, der Anschlag war wie im Fall der Farnese und der Hachiman sehr nahe, die Explosion sehr kräftig und die passiven Schutzfelder wie Impellerkeile, Seitenschilde und Strahlenschirme nicht eingeschaltet. Raketenwerfer und Grasersatelliten in der Umlaufbahn hingegen brauchten nicht voll getroffen zu werden, sie waren immer schutzlos. Deshalb würde das Verhältnis der zerstörten Waffen gewaltig zugunsten der Angreifer anwachsen.
Jedenfalls für gewöhnlich , dachte Honor mit einem halbseitigen Haifischgrinsen und spürte im Hinterkopf Nimitz’ grimmige Zustimmung. O ja. Für gewöhnlich. Und diesmal vielleicht auch. Aber vorher werde ich sie wissen lassen, dass sie im Gefecht sind!
»Kehren Sie auf die Brücke zurück, Lieutenant Thurman«, sagte sie ruhig. »Informieren Sie Commander Caslet, dass das Geschwader Unternehmen Nelson ausführen wird. Er möchte den anderen Schiffen per Bündelstrahl Signal geben, dann Kurs auf Point Trafalgar nehmen und das Schiff beschleunigungsklar machen. Haben Sie alles?«
»Aye, aye, Ma’am!« Thurman nahm erneut Haltung an, salutierte, wirbelte auf dem Absatz herum und eilte davon. Honor blickte ihr nach, dann wandte sie sich wieder an ihre Gäste.
»Ich fürchte, unser Abendessen ist unterbrochen«, sagte sie gleichmütig. »Sie alle werden in Kürze auf Ihren Stationen gebraucht. Zuerst aber …« Sie hob das Weinglas vor ihr Gesicht.
»Meine Damen und Herren, unser Trinkspruch heißt ›Victory‹!«
49
»Das«, sagte Bürger Lieutenant-General Chernock tonlos, »ist definitiv nicht Dennis Tresca.« Mit dem Finger deutete er nachdrücklich auf das Gesicht auf dem Combildschirm, das noch immer sprach. Sein eigener Brückensessel stand außerhalb der akustischen und visuellen Aufzeichner Bürger Colonel Therrets; ›Tresca‹ sprach mit dem Stabschef. Bürger Konteradmiral Yearman blickte den Bürger General schief an.
»Bei allem schuldigen Respekt, Sir, was macht Sie so sicher?«, fragte er leise. Als Chernock ihn anblickte, zuckte der Flottenoffizier die Achseln. »Wer immer er dann ist, er hat jede Frage beantwortet, die wir ihm gestellt haben, Bürger General«, erklärte er. »Und ich habe ihn weder zögern sehen, noch hatte ich den Eindruck, dass er unter Zwang steht.«
»Das glaube ich auch nicht – falls das da tatsächlich ein ›Er‹ ist!«, knurrte Chernock, und fast gegen den eigenen Willen hob Yearman eine Augenbraue. Chernock bemerkte es und
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