Hoppe
Rattenfänger
(Pied Piper of Hamelin)
enthielt, in der zum Schluss »one little lame boy« (ein kleiner lahmer Junge) die Szene betritt, der offenbar nicht schnell genug ist, um mit den anderen zusammen in den Berg (»the Koppenberg Mountain«) zu gelangen. Er, so wird berichtet, sei es gewesen, der den »citizens of Hamelin« (den Hamelner Bürgern) von dem Unglück berichtet habe. (Die hier erwähnte Textfassung folgt offenbar nicht der in Deutschland bekanntesten Version der Sage nach den Brüdern Grimm.)
Allerdings weist das Buch Widersprüche zwischen Text und Illustrationen auf, die der jungen Leserin nicht entgehen. Ist im Text von nur einem (lahmen) Jungen die Rede, zeigen die Bilder stattdessen zwei Kinder, von denen das eine lahm, das andere dagegen blind ist. Das blinde Kind stützt das lahme, während das lahme dem blinden den Weg weist. Felicitas’ Misstrauen ist geweckt, fortan traut sie weder Phyllis noch dem Text, noch den Bildern. In einem Brief an ihre Geschwister in Hameln stellt sie die dringende Frage, was es mit den Zurückgebliebenen eigentlich auf sich habe: »Man sagt, das eine sei blind gewesen und das andere lahm. Aber kann man sich dessen sicher sein? Weiß man in Hameln mehr darüber? Könnt Ihr Euch für mich kundig machen? Vielleicht im Fremdenverkehrsbüro? Womöglich waren die Kinder weder blind noch lahm, sondern taub und stumm, so dass das eine die Musik gar nicht hören konnte, und das andere konnte davon nicht sprechen. Oder sie waren blind und taub oder taub und lahm oder lahm und stumm oder stumm und blind oder blind und taubstumm oder alles zusammen und konnten weder sehen noch hören. Und schon gar nicht Geschichten erzählen.«
Über diese Grundfragen hinaus begleitete Hoppe über Jahre hinweg die weit quälendere Hauptfrage, wie es insgesamt wäre, »überhaupt nichts zu hören und die ganze Musik, von der wir andauernd umzingelt sind, nur zu sehen. Wie hält man das aus, lauter Instrumente ohne Klang?« Es dürfte mehr als nur ihr kindlicher Quälgeist gewesen sein, der sie dazu antrieb, bereits in ihren frühen Schuljahren ihrem Vater, ihren Mitschülern und ihren Lehrern wieder und wieder dieselbe unbeantwortbare Frage vorzulegen: »Was möchtest du lieber: Blind oder taub sein?«
Schon damals war Felicitas berüchtigt für ihren Hang zu provozierenden Scheinalternativen. Sie selbst, die, ihrem Sportsgeist folgend, gern mit gutem Beispiel voranging, war um radikal pathetische Antworten selten verlegen: »Im Fall dieses Falles unbedingt blind. Lieber tönendes Dunkel als schweigendes Licht!« Der Rest der Befragten schwieg sich aus. Einzig Phyllis ließ sich nicht lumpen: »Wozu diese Frage? Deinen Leuchtpuck sieht doch ein Blinder.«
Während Phyllis sich ihrer Antworten jederzeit unschlagbar sicher war, war Hoppes Musiklehrerin, Alexanders Ururenkelin Lucy Bell, eine überzeugte Zweiflerin, die Talente zwar zu erkennen vermochte, sich aber davor scheute, sie voreilig zu fördern. Perfektionistin durch und durch, war sie, im Gegensatz zu Walter, von der Vorstellung besessen, dies nur dann tun zu können, wenn sich »mehr als nur ein Ansatz von Eignung oder Leidenschaft« zeigte. Sie folgte dabei ihrem persönlichen Motto (»ganz oder gar nicht«), um »die Welt vor dem größten und kindlichsten Missverständnis von allen« zu bewahren, »dass die Kunst auf der Straße liegt und für jeden zu haben ist«. Lucy Bell war nicht nur eine strenge Protestantin, sondern, wie das Archiv der Schule in Brantford beweist, auch eine Art selbsternannte Gutachterin, die den von ihr ausgefertigten Schulzeugnissen neben schlichten Zahlen (lange vor der Zeit jener heute allgemein üblichen ausführlichen Begründungen) ungefragt weitschweifige Ausführungen über die Einschätzung ihrer Schülerinnen und Schüler beilegte.
So auch über Felicitas: »Ihr musikalisches Talent ist so bemerkenswert wie vollkommen unentwickelt. Beachtliche Stimme. Singt mit Eifer und Beteiligung, lässt an Konzentration allerdings zu wünschen übrig. Schlecht kontrollierte Atmung. Typisch katholische Schwankungen in Gemüt und Ausdruck, weshalb bei der Instrumentenwahl schwer zu raten ist. Stimme oder Taste? Saite oder Blasinstrument? Auf den ersten Blick die Posaune, die ihrer Stimme und Konfession am nächsten kommt. (Felicitas, die vermeintliche Außenseiterin, hatte bereits im zweiten Brantforder Schuljahr und über Jahre hinaus das Amt des Klassensprechers inne.) Auf den zweiten Blick Oboe
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