Hoppe
Rachmaninow zu Schönberg und Schönberg wieder zu Bach transponierte.
Lauter heimliche Zirkusnummern (sie die Arena, ich das Publikum), denn eigentlich spielte sie ausschließlich Bach, immer nur Bach. Bach, sagte Bell (wobei sie seufzte), sei das Alpha und Omega, nicht nur in der Musik, auch im wirklichen Leben, der einzige wahre Gottesbeweis. Es gäbe nichts Größeres als Bach, und es werde auch nie etwas Größeres geben, nur er und sonst niemand sei in der Lage, die menschliche Existenz in all ihren Höhen und Tiefen auszumessen, das habe sie bei Flora Gould gelernt, in ihren frühen Torontoer Jahren.«
Wieder und wieder, behauptet die Schülerin Hoppe, habe die Lehrerin Bell von ihrer Zeit in Toronto als der schönsten ihres Lebens gesprochen, von jener unvergesslichen Zeit bei Flora Gould, ihrer ersten und einzigen Lehrerin, die ihr alles beigebracht habe, was man für das Klavierspiel brauche: Bach. Die Erzählungen aus dem Hause Gould habe sie (Bell) regelmäßig mit dem Hinweis darauf geschlossen, sie gehöre zu den wenigen glücklichen Menschen (»the happy few«), die Floras großen und einzigen Sohn (gemeint ist vermutlich der kanadische Pianist Glenn Gould/fh), noch leibhaftig auf der Bühne erleben durften:
»Was für ein Tag, als er zum letzten Mal öffentlich auftrat. (Niemand wusste, dass Glenn Goulds Auftritt am 10 . 4 . 1964 in Los Angeles sein letzter öffentlicher Auftritt sein würde./fh) Ich weiß noch genau, was auf dem Programm stand, wie schön und in sich gekehrt er aussah, wie er auf seinem kleinen bescheidenen Stuhl mit den abgesägten Beinen saß und wie ergreifend und demütig er spielte, von unten nach oben, wie auf Knien. Natürlich Bach. Und Hindemith und Beethovens opus 108 . Nebenbei sang er. Es war einfach magisch.« (Bell frei nach Hoppe)
Auch in späteren Jahren scheint Hoppe nicht aufgefallen zu sein, dass Lucy Bell kaum in der Lage gewesen sein dürfte, sich 1964 (kaum vierundzwanzigjährig) eine Reise nach Los Angeles zu leisten, wo der große GG übrigens nicht Beethovens opus 108 , sondern opus 109 zu Gehör brachte. Ein für Hoppes frühe Geschichte unbedeutendes Detail, da Lucys Erzählungen auch oder vor allem jenseits von Fakten einen großen Eindruck auf ihre Schülerin machten, die fortan von nichts anderem träumte, als davon, vom Eis in den Konzertsaal zu wechseln, um es am Ende, »wenn die Zeit endlich gekommen ist, in der ich für immer berühmt sein werde«, ihren Vorbildern gleichzutun und »ganz von der Bildfläche zu verschwinden«.
Vorerst aber träumt sie keineswegs vom Verschwinden, sondern vom »ganz großen Auftritt« und scheut, jedenfalls in ihren Träumen, nicht davor zurück, ihre beiden Vorbilder leichthändig in eins zu bringen. Denn auf einmal ist sie zu ihrer eigenen Überraschung doppelt verliebt, zu allem Überfluss in zwei Kanadier auf einmal, in Gretzky so sehr wie in Gould, in den ersten real, in den zweiten ideal, und gerät dadurch in »innere Not«, in anderen Worten, in einen einfachen Loyalitätskonflikt.
In einem 1973 in Ontarios Schulen unter dem Titel
Spell your Dreams
(
Wie man Träume buchstabiert
) ausgeschriebenen Wettbewerb reicht die noch nicht Dreizehnjährige (ohne Wissen ihres Vaters und ihrer Englischlehrerin und unter dem schlecht erfundenen Pseudonym Bee Hope) einen Aufsatz mit dem Titel
Wayne meets Glenn
ein, in dem sie von einem Pianisten erzählt, der statt im Frack »in einem Trikot mit der auch in den hinteren Rängen gut sichtbaren Nummer 99 « (gemeint ist vermutlich das Trikot Gretzkys/fh) auf der Bühne hinter seinem Klavier sitzt und im ersten Satz des Klavierkonzerts Nr. 4 von Beethoven plötzlich unerwartet (»für die Kadenz war es eindeutig noch zu früh!«) »in eine Improvisation ausschert«, mit der das Publikum nicht gerechnet hat: »Man muss sich das vorstellen – ein Publikum, das Beethoven wie sein Nachtgebet kennt und plötzlich auf eine Fährte gerät, die nicht, wie gewohnt, ins Vertraute führt, sondern ins eiskalte Abseits. Unvermutet verwandelte sich der Konzertsaal in eine Eisbahn, der Pianist in einen Eisläufer und das Publikum in Gäste eines Stadions, die beim besten Willen nicht wissen können, wie die Sache ausgehen wird.«
Ein zumindest in Auszügen bemerkenswerter Text, auch wenn es der jungen und deutlich überambitionierten Autorin nicht gelingt, Bühne und Stadion erzählwirksam in eins zu bringen. Die Geschichte endet für Protagonisten und Leser gleichermaßen
Weitere Kostenlose Bücher