Hoppe
mir lieber gar nicht erst vor, was in dem Fall passieren könnte, dass Lucy auch im kommenden Sommer noch da ist. Gar nicht auszudenken, die Rede käme womöglich auf ein gemeinsames Sommerhaus, auf Angeln, Picknicks und Schwimmen.«
Hoppes hier erstmals ausdrücklich erwähnte Sommerangst ist nur der Auftakt ihrer langen Geschichte im ewigen Kampf mit den Jahreszeiten. Noch in einem Text aus dem Jahr 2007 , mit dem sich die soeben als ordentliches Mitglied in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommene Autorin, einem dort üblichen Ritual folgend, in der Mitgliederversammlung präsentiert, bringt sie nicht nur den Rattenfänger wieder ins Spiel, sondern vor allen Dingen jenen kleinen Jungen, der (nach der Überlieferung der Brüder Grimm) umkehrt, um seinen Mantel zu holen und darum den Anschluss an die Gruppe verliert:
»Und dann war da noch ein kleiner Knabe, der trug nur ein Hemd und kehrte um, seinen Rock für die Reise zu holen. Als er zurückkam, waren die anderen verschwunden. Dieser Junge bin übrigens ich, denn ich bin im Dezember geboren, und ich rechne mit Kälte. Aber sobald ich anfange, von meinem Mantel zu sprechen, der rot (sic!/fh) ist und lang und vier große Taschen hat, zwei davon auf der Brust und zwei auf dem Rücken, gibt es Streit. Die Tochter des Bürgermeisters behauptet, ich käme in dieser Geschichte nicht vor, ich hätte mich und den Mantel nur dazuerfunden. Auch sei das stumme Kind gar nicht stumm gewesen, sondern einfach nur lahm. Meine schreckliche Neigung, die Dinge falsch nachzuerzählen, weil ich immer alles einkleiden, wärmen und verbessern will. Ich bin und bleibe ein Winterkind, ich bin mit dem Leben nicht einverstanden.«
Zeit ihres Lebens ist Hoppe ein Winterkind geblieben, was die australischen Jahre zu einer Herausforderung der besonderen Art machen sollte. Die Forschung allerdings hat den Ursprung von Hoppes Sommerkomplex auf einen schlichten kindlichen Tick vordatiert, indem sie ihn auf eine Folge ihrer frühen Verehrung für Glenn Gould zu reduzieren versuchte, von dem Hoppe, wie Tracy Norman 1999 in einem Aufsatz mit dem Titel
Missing the Summer
(
Den Sommer auslassen
) behauptet (ohne diese Behauptung faktisch untermauern zu können), immer ein Bild bei sich getragen habe, das den kanadischen Pianisten, in Mantel, Schal und Handschuhe verpackt, an einem Strand auf den Bahamas zeigt.
Ob Hoppe das Bild wirklich kannte, ist ebenso zweifelhaft wie die Behauptung, Glenn Goulds ehrgeizige Radioproduktion
The Idea of the North
(
Die Idee des Nordens
) habe sie nachhaltig begleitet und einen »unauslöschlichen Eindruck« (Norman) bei ihr hinterlassen. Ob sie das Hörstück jemals ernsthaft zur Kenntnis nahm, ist bis heute nicht nachweisbar. »Aber genau wie Glenn«, führt Norman weiter aus, »hatte Hoppe ein äußerst gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper, was sich unter anderem in ihren Texten ausdrückt, in denen ständig von Schneidern die Rede ist, die nicht nur ihren persönlichen familiären Hintergrund aufrufen, sondern deren Kunst ganz allgemein, die ausdrücklich darin besteht, nichts zu zeigen, sondern alles zu verhüllen, was Hoppes ausdrückliche Ablehnung ungepanzerter Vergnügungen erklärt.
Gepanzerte Gestalten sind in Hoppes Werk Inflation, von kämpfenden Rittern über gequälte Rucksackträger auf mühsamen Expeditionen bis hin zu Damen in endlosen Gewändern unter hohen Hauben, die durch keinen Türrahmen passen. Von ihrer Neigung zu Pelztieren ganz zu schweigen. Was den Körper und seine Bekleidung betrifft, lässt sich sagen, dass Hoppe, jedenfalls literarisch, nie in der Gegenwart angekommen ist. Bei Hoppe trägt man bis heute, egal, bei welchem Wetter, geschlossene Schuhe, schwere Mäntel und in der Regel Mützen mit Ohrenklappen. Eine Eiszeitliteratur der besonderen Sorte, in der Strände, das Meer und nackte Körper im günstigsten Fall eine Metapher, niemals aber ein Freizeitvergnügen sind. Hoppes Protagonisten vergnügen sich grundsätzlich nicht. Selbst wenn sie gelegentlich picknicken dürfen, geht es nicht um Entspannung, sondern auf höchst beklemmende Weise immer ums Ganze, um eine eiskalte deutsche Winterphilosophie. Warum macht sie nicht einfach den Reißverschluss auf und lässt uns einen Blick ins Innere werfen?«
Ginge es ausschließlich um Hoppes Freizeitverhalten, läge Norman mit ihrer Vermutung einigermaßen richtig. »Freizeit«, so die Autorin 2004 in einem Interview (»Was macht eigentlich Frau Hoppe
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