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Hoppe

Hoppe

Titel: Hoppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Hoppe
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mein Entführervater mir genau erklärt, wie schnell so ein Herz wieder zusammenwächst, ein Wunder der Anatomie. Er hat übrigens recht. Als wir in Brantford den Zug bestiegen, hatte ich tatsächlich noch das Gefühl, ich könnte sogar Lucy Bell vermissen. Das hat sich allerdings sehr schnell verflüchtigt. Schließlich reicht es, wenn einer von uns sie vermisst, auch wenn er, seit wir auf Reisen sind, kein einziges Wort über sie verliert.
    Aber wie kommt es, ganz allgemein, dass sich alles so schnell in der Ferne verliert? Schon nach den ersten Stunden im Zug hat nicht nur Lucy ihr Gesicht verloren, auch Martha wird unscharf, sogar Bamie fängt langsam an zu verblassen. Nur was, wenn plötzlich auch Wayne verschwindet? Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass mir die Kraft der Erinnerung fehlt, nicht weil ich mich nicht erinnern kann, sondern weil der Platz fürs Erinnern beschränkt ist, weil ich den größten Abschied längst hinter mir habe. In meiner Erinnerung ist nur Platz für eine Familie, und der ist besetzt, weil er Euch gehört.«
    Der hier angeschlagene Ton, jenes schon für die junge Hoppe so typisch hochtrabende Pathos, bleibt kennzeichnendes Merkmal einer endlosen Reihe von (gelegentlich redundanten) Briefen, die Felicitas in den folgenden Wochen auf hoher See zwischen New York und Adelaide verfassen wird, wobei sie weniger die Tatsache zu beschäftigen scheint, dass sie tatsächlich nicht die geringste Ahnung hat, »warum wir eigentlich umziehen müssen« (sie nahm den Umzug fatalistisch in Kauf und hat ihn an keiner Stelle ihres Werkes jemals thematisiert), als die Frage danach, welchen höchst persönlichen Verlust dieser Umzug mit sich bringt. Denn von Vergessen kann keine Rede sein (das Felicitas von Martha Knit bescheinigte gute Gedächtnis hat sie höchst selten im Stich gelassen), schon gar nicht davon, Wayne sei, wie sie mehrfach entschlossen zu Papier bringt, schon innerhalb weniger Reisetage aus ihrer Erinnerung verschwunden, weil es »da draußen so viel zu sehen gibt, dass man sein Innenleben vergisst«.
    Zumal sie, über die reine Behauptung hinaus, mit keinem Wort erwähnt, was da draußen wirklich zu sehen war: die Stadt New York nämlich, die Felicitas zum ersten Mal bei ihrer Ankunft aus Europa als Fünfjährige gesehen hatte und die die inzwischen knapp Vierzehnjährige bei ihrem zweiten Besuch auf ganz andere Weise beeindruckt haben dürfte. Tatsächlich verliert sie aber in ihren Briefen kein Wort darüber, was selbst dann befremdlich bleibt, wenn wir ernsthaft glauben wollen, Felicitas habe sich »für Orte noch weniger als für Verhältnisse« interessiert, und davon ausgehen, dass Karl Hoppe, auch in den siebziger Jahren nach wie vor »sparsam an allen Ecken und Enden«, vermutlich nur wenig Ehrgeiz hatte, seiner Tochter vor der Abfahrt »die große Stadt von Abschied und Ankunft« zu zeigen. (Seiner akribischen Buchführung zufolge logierten Vater und Tochter vor ihrer Abreise nach Adelaide zwei Nächte in einem »so überteuerten wie heruntergekommenen Quartier« in Brooklyn.)
    Trotzdem ist davon auszugehen, dass Felicitas einen wie auch immer gearteten Eindruck von New York mit auf die Reise nach Australien nimmt, der über den des mittlerweile legendären Kochs aus ihrem Roman
Pigafetta
weit hinausgegangen sein dürfte, der, an der Reling eines namenlosen Schiffes stehend, die Stadt folgendermaßen kommentiert: »Zehn Monate Fahrt, dreimal New York, kein Fuß an Land, wenn diesmal nicht, dann vielleicht in der nächsten Runde.« Die aufregendste Stadt der Welt bleibt eine Leerstelle, nicht nur in Hoppes Briefen, sondern im Werk insgesamt.
    Es ist also nicht das Bild New Yorks, sondern das Bild Wayne Gretzkys, das Felicitas’ Schiffsreise begleitet. Das ist wörtlich zu nehmen. Noch lange nach den kanadischen Jahren trug sie in einem eigens zu diesem Zweck angelegten Heft (Marke
Clairefontaine
), zusammen mit einigen anderen Bildern und einer per Hand abgeschriebenen Zitatensammlung (»aus den Werken meiner Wahl«), jenes berühmte Foto bei sich, das den zehnjährigen Wayne in voller Hockeymontur und genau so zeigt, wie Felicitas ihn, wann und wo auch immer die Rede auf ihn kam, beschrieben hat: »Überraschend blond und zerbrechlich.« Das Bild, auf der Vorderseite mit einem Autogramm Waynes versehen (»Wayne for Fly!«), trägt auf der Rückseite den Vermerk: »Pretzl, the solemn squirrel!« (Die »Pretzl« (Bretzel) als Anspielung auf Waynes Spitznamen unter

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