Hoppe
Alles steht Schlange vor der großen Stille. Nur der erste Beweger, der größte Trainer von allen, schweigt. Und Phyllis lacht leise und zärtlich und zündet sich, ganz nebenbei, eine weitere Zigarette an, weil sie wie immer weiß, was kommt. Dass sich die Esel auf dem Eis plötzlich in Könige verwandeln, denn die Könige sind ja gar nicht verschwunden, sondern bloß weitergewandert, Fuß vor Fuß, trittsicher im Gelände, bis sie am anderen Ende des Berges plötzlich ein großes und strahlendes Licht sehen. Und, Kinder!, was soll ich euch sagen: Da stehen sie plötzlich in Tahiti, an einem frisch erschaffenen Strand. Damit hatte natürlich keiner gerechnet. Wie groß die Freude war, könnt ihr euch denken. Und das alles haben sie dem Rattenfänger zu verdanken. Denn hätte der sie nicht mitgenommen, säßen sie bis heute in Brantford, ohne Aussicht auf Kronen.«
Es ist also wiederum Phyllis gewesen, die Felicitas, über größte Distanzen hinweg, dazu anhielt, aus der Not eine Tugend zu machen, auch wenn wir es hier fraglos mit einem frühen Musterbeispiel Hoppe’scher Tröstungsliturgie und Selbstrettungsprosa zu tun haben, in der zahlreiche Motive auftauchen, die Hoppe in ihrem späteren Werk (in weit weniger emotional und pathetisch aufgeladener Form) wiederaufgenommen hat, vor allem in ihrem Roman
Paradiese, Übersee
, in dem sie (literarisch stark verklausuliert) nochmals jene Jahre aufruft, in denen sie regelmäßig in den von Lucy inszenierten musikalischen Weihnachtsspielen auftrat und dies nachweislich nicht nur mit großem Erfolg, sondern mit größtem Vergnügen.
Wie wirksam Hoppes Formen literarischer und phantastischer Selbsttröstung tatsächlich waren, lässt sich schwer ausmachen, denn das eben Geschriebene konterkarierend, fährt sie in demselben Text in der für sie typischen Gegenbewegung, die Trost und Erbauung nur kurzfristig zulässt, um danach wieder alles in Frage zu stellen, fort: »Nur dass leider weder Phyllis und Lucy, schon gar nicht hier unten am anderen Ende der Welt, meine Hirtenstimme vernehmen können, weil hier längst Sommer ist, ein Sommer, von dem da oben keiner auch nur die geringste Ahnung hat, weil nicht nur Sommer und Winter nicht gleich sind, sondern weil auch kein Sommer dem anderen gleicht.
Denn was ist ein Sommer im Weserbergland gegen einen kanadischen Sommer, gegen einen australischen Sommer! Schließlich sind wir hier unten am Ende der Welt, die immer noch eine Scheibe ist, von Wünschen umzingelt, von lauter Inseln süßer Verheißung, auf denen jeder Matrose vergisst, woher er glaubt, gekommen zu sein, und wohin er glaubt, noch fahren zu wollen. Denn das hier sind besondere Inseln, mit anderen Hirten und Königen, auf denen es weder Winter noch Friedhöfe gibt, auch keine Weihnacht, von dort kehrt keiner zurück.« (Aus:
Ich hasse Tahiti
)
Sosehr Small und Kramer sie dazu drängten, so sicher ist, dass Felicitas auf ihrer Reise im Jahr 1974 bei ihrer Ankunft in Papeete (Tahiti) keinen Fuß an Land gesetzt hat, worin sie übrigens dem Vorbild ihres Vaters folgte, der seiner ununterbrochenen Seekrankheit zum Trotz die ganze Fahrt über jeden Landgang vermied: »Schließlich haben wir an Bord alles, was wir brauchen. Nur dass Felicitas sich, nicht ganz unerwartet, auch hier unten einen Adventskranz wünscht. Dabei gibt es da draußen Lichter genug, um sich in Weihnachtsstimmung zu bringen.« Und er fährt fort: »Heute Abend wieder ein weinendes Kind. Lästig. Felicitas fürchtet sich vor der Ankunft, man werde sie für ihre Kleidung verspotten. Kinderklage. Ein neuer Badeanzug kommt gar nicht in Frage.«
Gut möglich allerdings, dass sich Karl Hoppe, genau wie seine Tochter, einfach vor dem Festland fürchtete, ein »ziemlich durchschnittlicher Fall von Landgangsangst«, wie Kramer in seinen Notizen vermerkt, »unter der nicht nur Seeleute, sondern vor allem zahlende Gäste nach mehreren Wochen ununterbrochener Reise auf See nicht selten zu leiden haben, wenn sie plötzlich das enge und in jeder Hinsicht beschränkte Bordleben und die unter solchen Bedingungen gelegentlich besonders ausufernden persönlichen Phantasien auf einmal mit der Wirklichkeit abgleichen müssen.«
Denn »an Land standen halbnackte Frauen, Männer und Kinder mit Körben voller seltsamer Früchte und komischem Spielzeug und mit Kränzen am Hals, die alles mit offenen Armen empfingen, was ihnen vom Schiff aus entgegenkam. Sie lachten und tanzten, warfen Blüten und bunte Bälle (rot und
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