Hoppe
Süden ging, auf empfindliche Weise gesteigert haben dürfte und dass sie spätestens südlich des Äquators damit begann, neben den Briefen an ihre deutschen Geschwister auch zahlreiche Briefe nach Kanada zu schreiben (die, wie Smalls Buchführung bestätigt, auch abgeschickt wurden), nicht nur an Phyllis, sondern vor allem an Wayne. Briefe, auf die sie vermutlich nie eine Antwort erhielt und die uns leider nicht zugänglich sind. (Familie Gretzky verweigert die Einsichtnahme.)
Dafür gibt eine andere, für ihre Geschwister festgehaltene Episode deutlich Aufschluss über ihren Gemütszustand zwischen dem Panamakanal und Tahiti: »Gestern Nacht standen wir unter enormen Sternen (nirgends sonst auf der Welt solche Sterne!) und teilten uns gerade die letzte Zigarette, als er mich plötzlich heftig gegen die Reling drückte und mir (indem er die noch brennende Kippe über Bord warf) ins Ohr flüsterte: Ich hasse Tahiti!«
Dem ist nichts hinzuzufügen. Felicitas mochte den Sommer im Allgemeinen so wenig wie die Südsee im Besonderen. Wie groß ihre Sommerangst vor der neuen heißen Heimat tatsächlich war, belegt eine Notiz Kramers, der sich sehr genau daran erinnert, ganze Abende mit Felicitas verbracht zu haben, an denen er sie damit zu trösten versuchte, dass es, was wenig bekannt sei, auch in Australien eiskalt werden könne und dass man dort, auch wenn das Eishockeyspiel nicht sehr populär sei, immerhin doch gut Ski fahren könne, er habe das selber auch schon getan. (Reine Erfindung. Kramer hat nie auf Brettern gestanden./fh) »Und wie ich dich kenne«, sagte Kramer (und schlug ihr dabei freundlich auf die Schulter), »wirst du innerhalb kürzester Zeit eine tüchtige Mannschaft zusammenhaben, lauter nette Mädels und Jungs, und wo eine richtige Mannschaft ist, da findet sich auch das passende Eis, selbst in der Wüste, das garantiere ich dir!«
»Aber was fange ich an mit diesem Kramerschen Trost«, schreibt Felicitas, »wenn zu Hause die längste Nacht vor der Tür steht, mein Geburtstag (mehr Licht!) und Weihnachten. In Brantford liegt schon seit Wochen Schnee, in Hameln fallen die ersten Flocken, die Gastgeberkönigin backt seit Tagen Kekse, mein Vater schnitzt frische Kasperfiguren (ob es dieses Jahr endlich ein Krokodil gibt?), Martha (Martha Knit/fh) strickt Strümpfe, Phyllis sitzt in der Küche, raucht (und schlägt Sahne), Walter wässert den Eisring nach, Kim schreibt Listen (Geschenke für alle, keinen vergessen!), was Keith und Glen machen? Keine Ahnung. Nur das Eichhörnchen Nummer neunundneunzig (Wayne/fh) fliegt langgestreckt übers Eis und sammelt Pokale und noch mehr Pokale, einer für alle, Pokale für alle, und hat mich vergessen, während Lucy damit beschäftigt ist, ihre Schüler, wie jedes Jahr im Dezember, von der Orgel aus anzutreiben und auf das Weihnachtsspiel einzuschwören, lauter ehrgeizige Schafe und Hirten.
Lucy, die beste Klavierlehrerin von allen, die unsichtbar durch alle Türen geht und alle Sonntagslabore von innen kennt, wird das schon irgendwie schaffen. Denn Maria und Josef wachsen jedes Jahr nach, und Tony (Tony Tonell/fh) bringt sie alle in Stimmung. Aber einen Hirten wie mich (Hand aufs Herz und ins Feuer!) bekommt sie nie wieder, niemand wird jemals einen besseren Hirten geben als ich, den ersten und besten Hirten von allen, der weiß, was die Stunde geschlagen hat, weil er die Sterne liest und genau weiß, wann die Könige kommen und wie man das feierlich verkündet: nicht mit Orgeln, nicht am Klavier, nicht mit Hindemith und Rachmaninow, nicht mit Schönberg und auch nicht mit Bachtrompeten, sondern mit einer Schiffstrompete, unter deren Klang sich das Stampfen der Füße der Matrosen in das Stampfen von Elefanten verwandelt, begleitet von Kamelen und Trommeln, von Zimbeln und Rasseln, bis ich, der Hirte im Trikot 99 , dem wilden Treiben Einhalt gebiete, indem ich meine Stimme erhebe und für alle gut hörbar von der Arena bis in die höchsten Ränge rufe, dass die Könige kommen. Die Könige kommen, die Könige kommen!
Und siehe, Stille herrscht auf dem Eis, die Spieler erstarren in ihrer Bewegung, sogar Nummer neunundneunzig hält inne und schaut in den Himmel, in dem gar nichts zu sehen ist, weil man oben nicht sieht, was man unten nicht fühlt und unten nicht fühlt, was man oben nicht sieht, weshalb sich nirgendwo Könige zeigen. Eine kurze Zehntelsekunde lang halten die Spieler inne, selbst Bamie und Walter sitzen still und lauschen auf den Befehl von oben.
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