Hoppe
stadteinwärts auf die King William Road blickt, während neben mir ein anderer steht, der, zwei Köpfe größer, gleichfalls die Hand auf die Augen legt, nicht die linke, sondern die rechte, bevor er mit leiser Stimme fragt: Bist du wirklich von hier? Und ich drehe mich um, was geht das dich an? Nichts, sagt er. Aber wer mir gefällt, den spreche ich an, und dem beweise ich alles.«
Auch wenn Joey nicht alles beweisen konnte – sicher ist, dass er alles gab. In ihrem Tagebuch spricht Virginia nicht nur von einer deutlichen Leistungssteigerung, sondern auch davon, wie überrascht sie sich von Felicitas’ sportlichen Neigungen zeigte, um allerdings gleich hinzuzufügen, dass sie im Stadion, nicht anders als in der Kirche, vollkommen auf Außenreize fixiert sei und sich kaum zurückhalten könne, wenn Joey sich »auf CALL ins Feld und mit großer Geste auf den klingenden Ball wirft«. (Im Blindencricket ist der Ball hörbar, also im Inneren mit Flaschendeckeln oder kleinen Glöckchen versehen./fh)
Tatsächlich war Felicitas ganz und gar auf Joeys Fallsucht fixiert, der im Eifer des Gefechts regelmäßig (»und offenbar mit Vergnügen«) stürzte, »was mich an alles erinnert, was ich damals in Brantford tat, um Walter und Wayne und Boots zu gefallen. Nur dass Joey viel besser fällt als ich. Er fällt viel geübter, so wie nur Blinde fallen können, genau wie er Fahrrad fährt, über Ampeln geht und mich küsst, denn, wie Joey zu sagen pflegt: Man hört und riecht doch genau, was auf einen zukommt, nur dass man keine Angst haben muss, weil man den Hass im Auge des Gegners nicht sieht.«
Was hier Wahrheit, was dagegen Unkenntnis und sentimentale Projektion auf den blinden Freund ist, bleibt der Spekulation überlassen. Sicher ist aber, dass zwischen 1975 und 1978 , bis Quentin Felicitas so schweren Herzens wie entschlossen aus dem gemeinsamen Klavierunterricht entließ, sich auch zwischen Virginia und Felicitas eine Beziehung entwickelte, die paradoxerweise nicht durch die Musik, sondern einzig und allein durch die gemeinsamen Stunden im Stadion begründet war. »Denn sie (Felicitas) begriff das Spiel einfach viel besser als ich«, schreibt Virginia überraschend neidlos, »so dass mich, immer wenn sie im Stadion oder beim Training neben mir sitzt, eine seltsame Ruhe überkommt, die ich neben ihr in der Kirche nie habe. Vielleicht deshalb, weil sie nicht selber spielt und, bei aller offenkundigen Beteiligung an den Vorgängen auf dem Spielfeld, weder singt noch schreit und, davon abgesehen, auf fast fanatische Weise gerecht ist.«
Felicitas’ »fast fanatischer« Gerechtigkeitssinn, der nicht selten bis zur radikalen Verleugnung ihrer eigenen Bedürfnisse gehen konnte, ist weder Bamie Boots noch Virginia Blyton entgangen, die sich noch Jahre später, nachdem Joey tatsächlich in die internationale Liga des Blind Cricket aufgestiegen war (bevor er tragischerweise, anlässlich der Teilnahme eines internationalen Wettkampfes in Indien/Neu-Delhi, beim Überqueren einer Kreuzung von einem Bus angefahren wurde und fortan nie wieder spielen konnte), daran erinnerte, wie sehr Felicitas sich regelmäßig über vermeintliche Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern ereifern konnte, die, wie sie polemisch zu bemerken pflegte, »nur deshalb im Recht sind, weil sie englische schwarze Hosen tragen«. Sie hätte, ergänzt Virginia, »eine exzellente Schiedsrichterin abgegeben, sie war auf fast unheimliche Weise unbestechlich«.
Während Felicitas ihrerseits längst begonnen hatte, sich in eine ganz andere Laufbahn hineinzuträumen: »Es war tatsächlich im Stadion«, schreibt sie später, »während Joey klingende Bälle warf, dass ich zum ersten Mal anfing mir vorzustellen, wie es wäre, vor einem Orchester zu stehen. Ich stellte mir sogar vor, blind zu sein und mich ganz auf den großen Klang zu verlassen. Auch die Musiker, dachte ich, müssten blind sein, dann endlich würden wir alles spielen, wovon ich zeit meines Lebens nur träume. Dabei trug ich schwarze englische Hosen und abwechselnd Ballhandschuhe und Stock, der größte Wicket Keeper aller Zeiten, der alle Register auf einmal zieht, Batsman und Bowler in einem, bis unvermutet die Musik plötzlich abbricht und die andere Mannschaft das Spiel übernimmt.«
Der dritte im Bund auf der Bank war Wicket, der vermutlich von etwas anderem träumte und, ganz nebenbei, der einzige Hund war, den Felicitas jemals mochte, auch wenn er »meiner Liebe (gemeint ist Joey/fh)
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