Hoppe
betraf, war Felicitas, allen persönlichen Albernheiten zum Trotz, überempfindlich. Ich erinnere mich noch genau an jenen Abend, als Drug’s
Alexander
zur Uraufführung kam. Rob Wittacker, ein ziemlich mittelmäßiger Tenor, gibt den Alexander, betritt lächerlich taumelnd die Bühne, Hände und Füße in Ketten, einen Strick um den Hals, der vor seiner nackten Brust hin- und herbaumelt, und beginnt die Todesarie zu singen. Bei
Man’s Flesh is delicious
durchläuft Felicitas plötzlich ein leises Beben, sie beginnt erst zu zucken, dann zu zittern, mit der Rechten umklammert sie meinen linken Arm, mit der Linken zieht sie von irgendwoher ein Taschentuch raus, stopft es sich in den Mund. Was die Sache nicht besser macht, weil sie jetzt keine Luft mehr bekommt, sie fängt an zu husten, kann nicht mehr aufhören, im Saal wird es unruhig, bis sie endlich aufsteht und panikartig den Saal verlässt.
Es war nicht das erste, auch nicht das letzte Mal, sie neigte zu schrecklichen Lachanfällen, die ihr hinterher immer peinlich waren, sie hatte sich einfach nicht unter Kontrolle. Manchmal kam es auch vor, dass sie mitten in den Proben für irgendein ungeliebtes Stück, egal ob sie spielte oder dirigierte, in ein beinahe hysterisches Gelächter ausbrach, weil ihr blitzartig irgendwas einfiel, das mit dem Stück nicht das Geringste zu tun hatte, für sie ein untrüglicher Beweis dafür, dass die Komposition nichts taugte. Gegen mangelnde Qualität ist Selbstbeherrschung kein Mittel, sagte sie.
Solche Anfälle waren aber eher die Ausnahme. Meistens war sie bei der Sache, ausdauernd bis zur Selbstverleugnung. Sie war durch und durch sportlich, gab ungern auf. Nach all den Jahren unserer Zusammenarbeit kann ich mich nicht daran erinnern, dass sie, im Gegensatz zu Mel und einigen seiner Kollegen, jemals ausfällig geworden wäre oder den Taktstock hingeschmissen hätte, wie Mel das gern und mit großer Geste tat, davon abgesehen, dass sie gar keinen Taktstock hatte. Sie dirigierte ausschließlich mit bloßen Händen (sie hatte ungewöhnlich große Hände, Handwerkerhände), Handschuhe und Stock lehnte sie ab, was Mel genauso wenig gefiel wie die Tatsache, dass sie nie schlechte Laune hatte. Anhaltend gute Laune wertete er nicht nur als ein Zeichen von Charakterschwäche, sondern als musikalische Oberflächlichkeit. In der Musik kommt es auf Tiefe an, sagte er, da kommt man mit Dauerlächeln nicht durch. Bereits im ersten Jahr am Konservatorium bekam sie den Spitznamen ›Cheshire Cat‹ (gemeint ist vermutlich die »Grinsekatze« aus L. Carrolls
Alice im Wunderland
/fh). Zwei Jahre später entließ Melville sie nach ihrer gescheiterten Aufnahmeprüfung in die höhere Dirigentenklasse mit den Worten: ›Du wirst verschwinden, aber tröste dich, dein blödes Grinsen wird bleiben.‹
In Wahrheit hatte sie bloß eine Wette gewonnen, von der Mel natürlich nichts wusste. Zwei Tage vor der Aufnahmeprüfung waren wir zusammen durch Barossa Valley gefahren. Felicitas hatte sich in den Kopf gesetzt, eine Winzeroper zu schreiben (
The merry Vineyard
/fh). Ich sollte ihr die südaustralischen Weinberge zeigen und ihr die Geschichte meiner Familie erzählen (gemeint sind vermutlich die Seppelts und Seppeltsfield/fh), aber in erster Linie war ich ihr Fahrer, weil sie keinen Führerschein hatte. Unterwegs stellte sich heraus, dass sie über meine Familie weit mehr wusste als ich. Ich habe keinen Sinn für Familiengeschichten, am wenigsten für die eigene. Genealogien interessieren mich so wenig wie Weinanbau, ich liebe Musik, sonst nichts, ich hielt mich für einen großen Künstler, woher das Geld kam, war mir egal, ich wusste nur, dass genug davon da war. Ich sei zwar nach Urgroßonkel Viktor benannt, käme aber nach Urgroßonkel Benno, ein Onkel wie für die Bühne geschaffen, wie Felicitas begeistert erklärte, weil er (so die Familienlegende/fh) nie ohne Regenschirm und Geige aus dem Haus gegangen sei.
Später fing sie dann an, von Klemzig zu reden, von Altlutheranern und schlesischen Schiffen und von Joseph (Joseph Ernst Seppelt, 1813 – 1868 /fh), wie er erfolglos Tabak anbaut und sich dann auf Trauben verlegt, um endlich auf beide Beine zu kommen und reich zu werden. Noch während wir fuhren, begann sie zu schreiben, sie hatte immer irgendein Heft dabei, sie schrieb auf den Knien, ununterbrochen, abwechselnd Texte und Noten. Wenn sie nicht schrieb, dann sang sie. Sie sang überhaupt sehr viel, oder sie las mir was vor,
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