Hoppe
hielt sie für ein typisches Hoppelibretto, aber erstaunlicherweise gab es sie wirklich. Es gab sogar eine Art Tischleindeckdich und (›das merken Sie aber erst morgen früh‹) einen automatischen Lakendreher. Hochzeiter sind uns immer willkommen, sagte Ms Ayrton, bei
Grant’s Children
ist Platz für alle. Worauf am Nebentisch ein gewisser Dick Floater (Vorsicht, Stammgast!) schallend zu lachen begann, nach der Hüfte der Wirtin griff und sich, für alle Anwesenden überraschend, über der Brust bekreuzigte, bevor er wieder sein Glas erhob und rief: Auf das junge Glück, drei Runden für alle!
Und plötzlich geht tatsächlich ein Stern auf, nicht groß zwar, kein richtiges Leuchten, nur ein verlegenes Schimmern über halbleeren Tellern. Man erhebt die Gläser, alle vier auf einmal: Floater sein Bier, Felicitas weißen, ich roten Wein, während Helena, weil sie niemals trinkt, ein leeres erhebt und anfängt zu singen. Eine schlechte Stimme (Alt/fh) und eine abgedroschene Melodie, so bekannt wie ergreifend. Es fehlten nur meine Eltern und Karl, aber meine Eltern waren irgendwo anders, und Karl war längst auf der Flucht, den Steckbrief kann ich dir später zeigen, sagte sie, wenn wir oben im Zimmer und unter uns sind.
Der Rest der Nacht vergeht mit der Wahl der Zeugen und Gäste. Je länger wir sitzen und trinken, umso länger wird die Gästeliste und umso kürzer die Liste mit den möglichen Zeugen. Bei genauer Betrachtung kommen nur noch Ms Ayrton und Floater in Frage, ein Trauzeuge muss frei von Leidenschaft sein, ungebunden und unparteiisch, nur ein freier ist auch ein guter Zeuge. Sagt Floater und winkt nach dem sechsten Bier. Er selbst, der ewige Junggeselle, ist die ideale Besetzung. Wie viele Paare er schon begleitet hat, kann er nicht mehr genau sagen, aber mindestens fünfzehn, von denen acht geschieden, drei zerrüttet, zwei verschollen und die letzten beiden unglücklich sind. Sagt Floater und bestellt zum siebten Mal nach, während Helena sich endlich erhebt, um uns das Hinterzimmer zu zeigen. Wer heiraten will, sagt sie feierlich, darf alles, bloß kein Geheimnis haben.
Wir betreten einen schlecht beleuchteten Raum, an dessen hinterer Wand ein Klavier steht, während sich an den Wänden links und rechts Regale hochziehen, gestopft mit vertrockneten Blumensträußen, leeren Flaschen und zerknüllten Taschentüchern. Auf dem oberen Regalbrett (Ms Ayrton legt eine Leiter an und schickt mich nach oben) finde ich, wovon ich vorher nichts wusste, Felicitas’ Eishockeyschläger. Daneben, in einem karierten Rucksack, ihre Handschuhe und die Maske. ›Wenn Sie Mut haben‹, sagt Ms Ayrton (sie erkennt die Gefahr), ›probieren Sie’s aus. Kann sein, Sie kommen klar mit dem Schläger, was schwierig genug ist in einem Land ohne Eis. Aber wetten, dass Ihnen die Maske nicht passt?‹«
»Am Morgen (gegen 3 a.m./fh)«, so Viktor Seppelt weiter, »erzählte mir Felicitas in einem Zweibettzimmer mit Hafenblick die andere Hälfte der Wahrheit: dass Helena gar nicht Helena heißt, sondern Lucy Ayrton und dass sie nur auf den ersten Blick nicht trinkt. Dass Karl nicht ihr Vater, sondern bloß ihr Entführer ist und längst auf der Flucht. Dass sie weder aus Breslau noch Brantford stammt, sondern aus Hameln. Von einem Vater, der Kaspertheater baut und hartnäckig die Existenz von Krokodilen leugnet, von einer Mutter, die andauernd Sahne schlägt und von vier Geschwistern, die längst aufgehört haben, Briefe zu schreiben. Sie hatte kalte Füße und eiskalte Hände, die linke auf meinem Bauch, die rechte an meiner linken Schulter, sie roch gut, aber redete ununterbrochen, während ich im Dunkeln hinauf an die Decke starrte und versuchte, drauf zu kommen, wonach sie roch, bis ich langsam einschlief. Zwischen zwei Träumen wachte ich auf, um festzustellen, dass ihre linke Hand auf meinen linken Schenkel gerutscht war, sie war jetzt ganz warm, und dass Felicitas immer noch sprach.
Eine ganz große Sache sollte das werden, unsere Hochzeit, natürlich in Hameln, wo sonst, nicht etwa mit Anzug und weißem Kleid, sondern in voller Hockeymontur, zweimal die Nummer 99 . Denn zwei Schritte hinter der wirklichen Welt (wer zum ersten Mal heiratet, spürt das sofort) tut sich ein unermesslicher Raum auf, schrecklich und schön, von dem man nichts weiß, weil davon selten erzählt wird, weil man hier alles zum ersten Mal sieht und hört und riecht und fühlt und dabei (nur einmal im Leben), kurzfristig beide Augen
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