Hornblower 09 - Lord Hornblower
Unterströmungen wirksam waren, was immer auch die im Volk verbreitete Geschichtslegende heute davon behaupten mochte. Anderseits entbehrte der Prätendent bei jenem Empfang der besonderen Zierde, die das scharlachrote Tuch der Seesoldaten und das Blau und Gold der Navy dem heutigen Feste verliehen.
Da zupfte ihn jemand am Ärmel, es lag etwas Mahnendes in dieser Berührung. Hornblower wandte sich langsam um und sah, daß Brown in seinem besten dunklen Zivilanzug hinter ihm stand. »Oberst Dobbs hat mich zu Ihnen hereingeschickt«, sagte Brown.
Er sprach leise und ohne seinen Kapitän gerade anzusehen, dabei vermied er es, die Lippen mehr als unbedingt nötig zu bewegen. Offenbar wollte er weder die Aufmerksamkeit der Umstehenden erregen, noch irgendwem Gelegenheit geben zu hören, was er sagte. »Nun?« fragte Hornblower.
»Es ist eine Depesche eingetroffen, Sir, und Oberst Dobbs sagt, er möchte sie Ihnen gern zeigen.«
»Ich komme sofort«, sagte Hornblower. »Aye, aye, Sir.«
Brown schlich wieder davon. Wenn er wollte, konnte er sich trotz seiner Breite und Größe erstaunlich unauffällig benehmen.
Hornblower wartete noch so lange, bis man nicht mehr gut annehmen konnte, daß sein Weggang mit Browns Nachricht in Verbindung stünde, dann erst ging er langsam an den Türwachen vorüber hinaus. Draußen eilte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu seinem Dienstzimmer empor, wo ihn schon der Seesoldatenoberst in seinem roten Waffenrock erwartete. »Also doch! Sie sind unterwegs, Sir«, sagte Dobbs und gab Hornblower die Depesche zu lesen. Das war ein seltsames Dokument, ein langer, schmaler Papierstreifen, der trotz seiner geringen Breite der Quere wie der Länge nach klein zusammengefaltet gewesen war. Beim Anblick dieses merkwürdigen Schreibens sah Hornblower Dobbs zunächst einmal fragend an.
»Der Bote trug den Zettel zusammengefaltet in einem Knopf seines Mantels versteckt, Sir«, erklärte Dobbs. »Er stammt von einem Pariser Agenten.«
Es gab, wie Hornblower wußte, eine Menge von Persönlichkeiten in hohen Stellungen, die ihren kaiserlichen Herrn verrieten, indem sie militärische oder politische Geheimnisse, sei es für einen Augenblicksgewinn, sei es gegen die Aussicht auf künftige Beförderung preisgaben. Dieser Brief hier mußte auch aus einer solchen Quelle stammen.
»Der Bote hat Paris gestern verlassen«, sagte Dobbs. »Er ritt mit Postpferden nach Honfleur und kreuzte den Fluß heute abend nach Einbruch der Dunkelheit.« Der Brief war offenkundig von sachverständiger Hand geschrieben.
»Heute morgen«, hieß es darin, »ist Belagerungsartillerie aus dem Artilleriepark von Sablons auf dem Wasserwege stromabwärts gegangen. Es handelt sich um das 107, Artillerieregiment. Die Geschütze waren Vierundzwanzigpfünder, und zwar vermutlich vierundzwanzig Stück. Der Artillerie waren drei Kompanien Sappeure und eine Kompanie Mineure beigegeben. Angeblich soll General Quiot die Führung übernehmen. Welche Truppen ihm außerdem unterstellt sind, ist mir nicht bekannt.«
Der Brief trug keine Unterschrift, die Handschrift war offenbar verstellt. »Ist das Schreiben auch echt?« fragte Hornblower.
»Jawohl, Sir. Harrison sagt es. Außerdem stimmt sein Inhalt mit den anderen Meldungen überein, die wir aus Rouen erhalten haben.« Bonaparte, der sich im Osten Frankreichs zu tödlichem Ringen mit Russen, Preußen und Österreichern verbissen hatte, der im Süden mit Wellington um sein Leben kämpfte, hatte es also dennoch fertiggebracht, Streitkräfte zusammenzukratzen, um auch der neuen Drohung im Norden zu begegnen. Es gab ja keinen Zweifel, gegen wen diese Belagerungsartillerie eingesetzt werden sollte. Seineabwärts von Paris gab es nur einen einzigen Gegner, das waren die Rebellen in Le Havre. Die Entsendung von Sappeuren und Mineuren lieferte vollends den Beweis dafür, daß man eine Belagerung beabsichtigte, daß also die Geschütze nicht etwa nur zur Verstärkung irgendeiner Küstenbefestigung dienen sollten. Und Quiot hob soeben in Rouen zwei Divisionen aus.
Die Seine bot Bonaparte die beste Möglichkeit, einen Schlag gegen Le Havre zu führen. Die schweren Geschütze waren zu Wasser weit leichter zu befördern als auf dem Landwege. Das galt vor allem jetzt im Winter. Auch die Truppen legten den Weg viel rascher zurück, wenn man sie auf Schuten verlud, als wenn sie marschierten. Diese Schuten konnte man ja Tag und Nacht hindurch ohne Unterbrechung stromabwärts schleppen und
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