Hornblower 10 - Hornblower in Westindien
über die Karte gebeugt und schätzte brennend vor Ungeduld die Strecke ab, die noch zurückzulegen war. Aus Mangel an See-Erfahrung wußte er nichts von der alten Weisheit der Fahrensleute, daß alles Aufbegehren gegen die jeder Menschenmacht hohnsprechenden Naturgewalten sinnlos war. Als der Wind dann gar zwei Tage hintereinander südlicher einkam, so daß die Clorinda nicht mehr anliegen konnte, war er drauf und dran, Hornblower zu beschuldigen, daß er mit seinen Gegnern im Bunde sei. Er gab sich gar nicht erst Mühe, den beruhigenden Worten Hornblowers zu folgen, der ihm erklärte, daß sie auf dem Backbordschlag, den sie notgedrungen einlegen mußten, wertvolle Ostlänge gewannen, die später vielleicht von unschätzbarem Nutzen sein konnte. Dann wieder nahm er Kapitän Fell die seemännische Vorsicht übel, die ihn veranlaßte, Segel zu kürzen, als sie sich den gefährlichen Untiefen von Grand Cayman näherten. Als der folgende Morgen anbrach, enterte er in die Fockwanten, so hoch er sich getraute, um nach den Bergen von Venezuela Ausschau zu halten - und erkannte schließlich den blauen Streifen in der Kimm doch nicht als das ersehnte Land.
Ehe noch der Anker gefallen war, erschien bereits von Land her ein Boot, dann gab es auf dem Achterdeck gleich einen hastigen Meinungsaustausch zwischen Ruiz und dem Offizier, der mit dem Boot an Bord gekommen war. »Mein General ist in Carabobo«, sagte Ruiz zu Hornblower. »Dort wird es in Kürze zu einer Schlacht kommen. Bolivar rückt gegen Puerto Cabello vor, und mein General verlegt ihm mit seiner Armee den Weg.«
»Und wo ist Ramsbottom mit seinem Schiff?« Ruiz warf einen fragenden Blick nach dem Ankömmling. »In der Nähe von Puerto Cabello.«
Dort durfte man ihn auch am ersten vermuten. Die Stelle lag nicht ganz hundert Meilen weiter westlich, es gab dort eine offene Reede, wo Nachschub an Land gebracht werden konnte.
Überdies bot jenes Revier die beste Aussicht, jeden Verkehr zwischen Curacao und La Guaira zu unterbinden.
»Gut, dann laufe ich sofort nach Puerto Cabello weiter«, sagte Hornblower. »Wenn Sie wünschen, Don Manuel, können Sie gerne mitkommen. Der Wind ist günstig, ich bringe Sie auf jeden Fall schneller an Ihr Ziel als das schnellste Pferd.«
Ruiz zögerte einen Augenblick. Mit Pferden kannte er sich aus, gegen Schiffe hegte er Mißtrauen. Aber der Vorteil lag so klar auf der Hand, daß er das Angebot annahm. »Also schön«, sagte Hornblower. »Sir Thomas, wollen Sie die Güte haben, den Anker wieder zu lichten. Bitte, setzen Sie Kurs auf Puerto Cabello ab.«
Jetzt hatte die Clorinda den frischen Passat aus der Richtung, die ihr am besten behagte, nämlich vier Strich von achtern. Sie hatte alsbald ihre Leesegel stehen und flog unter allem Zeug, das sie führen konnte, in jagender Eile dahin. Ein Pferd in voller Karriere wäre vielleicht etwas schneller gewesen, aber kein Gaul der Welt hätte ein solches Tempo Stunde um Stunde durchgehalten, wie es die Clorinda mühelos tat, kein Gaul der Welt hätte außerdem auf den Bergpfaden der Seeanden je seine größte Geschwindigkeit erreicht. Aber Ruiz ging es natürlich immer noch zu langsam. Er starrte so lange mit dem Glas nach der vorübergleitenden Küste, bis er vor Anstrengung fast blind war, und wanderte dann ruhelos auf dem Achterdeck umher. Die Schweißtropfen rieselten ihm über Stirne und Wangen, als die Sonne ihre Mittagshöhe erreichte und senkrecht auf ihn nieder brannte. Hornblower wurde von ihm mit einem argwöhnischen Blick bedacht, als die Mannschaft der Clorinda in die Riggen enterte, um Segel zu kürzen.
»Wir gehen jetzt unter Land, Herr General«, erklärte Hornblower, um ihn zu beruhigen.
Die Lotgasten standen in den Rüsten, als die Clorinda die Reede ansteuerte. Während sie mit ihrem Singsang die Wassertiefen meldeten, hob Ruiz plötzlich lauschend den Kopf, um andere, von weither kommende Laute zu vernehmen. Dann sagte er zu Hornblower: »Hören Sie? Artillerie!«
Hornblower horchte gespannt. Da, ein leises, kaum vernehmbares Wummern, dann war es wieder verstummt, es blieb nur das Rauschen des Kielwassers und das lärmende Treiben der Männer, die die Vorbereitungen zum Ankern trafen.
»Bitte, befehlen Sie für einen Augenblick ›Ruhe an Deck‹, Sir Thomas!«
Jetzt hörten die Lotgasten auf, die Tiefen auszusingen, die Arbeit stockte, und jedermann an Deck der Clorinda blieb lautlos stehen, wo er gerade stand. Nur der Wind spielte noch in den Riggen, und
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