Hornblower 10 - Hornblower in Westindien
hörte man plötzlich lebhaftes Hin und Her, dann kam eine ganze Anzahl Menschen auf einmal hereingestürmt - außer dem Butler noch zwei Adjutanten, dann Gerard und - und - wer war denn das? Bleich, abgerissen und müde, kaum noch imstande, sich auf den zitternden Beinen zu halten? »Spendlove!« stieß Hornblower hervor. Sein Löffel fiel klirrend zu Boden, als er aufsprang und ihm entgegeneilte.
Er strahlte über das ganze Gesicht, als er dem jungen Mann die Hände drückte, nie in seinem Leben war ihm so froh ums Herz gewesen. »Spendlove!«
Fürs erste vermochte er nur immer wieder den Namen auszusprechen.
»Wir erleben hier wohl die Rückkehr des verlorenen Sohnes«, ließ sich Hooper vom Tisch her vernehmen. Nun erst fiel Hornblower wieder ein, was sich geziemte. »Eure Exzellenz«, sagte er, »darf ich mir erlauben, Ihnen meinen Sekretär Mr. Erasmus Spendlove vorzustellen?«
»Freut mich, Sie kennen zulernen, junger Mann. Bitte nehmen Sie Platz. Man bringe Mr. Spendlove etwas zu essen. Er sieht mir ganz so aus, als ob ihm ein Glas Wein nicht unwillkommen wäre. Bitte die Karaffe und ein Glas dazu.«
»Sind Sie verwundet?« frage Hornblower. »Fehlt Ihnen sonst etwas?«
»Nein, Mylord«, sagte Spendlove und streckte unter dem Tisch bedächtig die Beine aus. »Ich bin nur von dem siebzig Meilen langen Ritt noch etwas steif. Leider sind eben meine Glieder nicht an derartiges gewöhnt.«
»Siebzig Meilen?« fragte Hooper. »Woher kommen Sie denn?«
»Von der Montego-Bucht, Exzellenz.«
»Dann müssen Sie schon in der Nacht geflohen sein.«
»Kurz nach Dunkelwerden, Exzellenz.«
»Wie brachten Sie das fertig, Mann?« fragte Hornblower.
»Wie sind Sie denn weggekommen?«
»Ich sprang ins Wasser, Mylord.«
»Ins Wasser?«
»Jawohl, Mylord. Das Flüßchen am Fuße der Felswand war anderthalb Meter tief. Das reichte aus, um einen Sturz aus jeder beliebigen Höhe abzufangen.«
»Ja, so tief war es dort. Aber - aber im Dunkeln?«
»Das war nicht schwer, Mylord. Bei Tage warf ich einen Blick über die Brustwehr, Mylord. Das war, als ich Eurer Lordschaft noch zum Abschied nachwinkte. Dabei merkte ich mir genau die richtige Stelle und schätzte die Entfernung nach Augenmaß.«
»Und dann?«
»Dann sprang ich, als es ganz dunkel geworden war und grade ein schwerer Regenguß niederging.«
»Und wie verhielten sich die Piraten?« fragte Hooper.
»Sie hatten vor dem Regen Schutz gesucht, Exzellenz. Auf mich gaben sie nicht weiter acht. Sie hatten ja die Leiter aufgezogen und rechneten nicht damit, daß ich ihnen entkommen könnte.«
»Und Sie?«
»Ich nahm einen Anlauf, Exzellenz, und sprang, wie gesagt, über die Brustwehr. Unten schlug ich mit den Füßen voran ins Wasser.«
»Unverletzt?«
»Unverletzt, Exzellenz.«
Hornblower war dank seiner lebhaften Einbildungskraft in der Lage, sich den Vorgang in allen Einzelheiten auszumalen, die fünf bis sechs Schritte Anlauf durch Dunkelheit und strömenden Regen, den Absprung, den endlosen Fall. Er fühlte, wie sich in seinem Nacken die Haare sträubten.
»Ihre Handlungsweise verdient höchstes Lob«, bemerkte Hooper.
»In meiner verzweifelten Lage fiel mir der Entschluß nicht schwer, Exzellenz.«
»Das mag sein. Und wie ging es weiter, als Sie im Wasser angelangt waren? Wurden Sie verfolgt?«
»Soweit ich feststellen konnte, nein, Exzellenz. Vielleicht dauerte es eine Weile, bis sie mein Verschwinden bemerkten, und dann mußten sie erst die Leiter hinunterlassen und hinunterklettern. Ich hörte nichts dergleichen, als ich mich davonmachte.«
»Welchen Weg schlugen Sie ein?« fragte Hornblower. »Ich hielt mich an den Bach, Mylord, und folgte ihm flußabwärts. Er mündet in die Montego-Bucht, Sie werden sich vielleicht erinnern, daß wir das vermuteten, als wir unsere ersten Beobachtungen anstellten.«
»Kamen Sie denn leicht voran?« fragte Hornblower. Trotz aller stürmischen Gefühle war ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, der ihn nicht mehr losließ. »In der Dunkelheit war es nicht ganz einfach, Mylord. Stellenweise gab es Stromschnellen, und die großen Kiesel auf dem Grund waren glatt und schlüpfrig. Ich hatte den Eindruck, als ob ich durch eine enge Schlucht gekommen wäre, obwohl ich nichts davon sehen konnte.«
»Und wie war es in der Montego-Bucht?« fragte Hooper.
»Dort traf ich ein Wachkommando bei den Fischerbooten, eine halbe Kompanie des Westindischen Regiments, Exzellenz. Ich ließ den Offizier wecken, der sie führte, er
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