Hornblower 11 - Zapfenstreich
eine Art Mann war er hineingewachsen? Wie sehr er auch allen Auszeichnungen mißtraute, die er sich nicht selbst zuerkannte, seine Pairswürde und seine Flagge hatten gewiß dazu beigetragen, ihn etwas milder zu stimmen. Aber wenn er vielleicht auch etwas sanfter geworden war, verlor er doch seine alte Rastlosigkeit nicht, seinen Tatendrang, die Schnelligkeit seines Denkens. Die raschen Veränderungen im Schiffbau entgingen ihm natürlich nicht, er war Zeuge der Entwicklung der Klipper, sah die Anfänge der Dampfschiffahrt, und als freidenkender Mann konnte er der konservativen Haltung der Navy gegenüber solchen Neuerungen nicht beistimmen. Diese Betrachtungen enthielten sehr viel Anziehendes für mich, drunten in meinem Unterbewußtsein bemühten sich die Ideen, zur Reife zu kommen.
In Jamaica besteht bis auf den heutigen Tag ein kleines, noch unzugängliches Gebiet, Cockpit Country, das eine fremde Kultur aufweist und dessen unüberschreitbare Grenze kaum eine halbe Autostunde von den glitzernden Palästen Montegos entfernt liegt. Ich hatte selbst wiederholt an regennassen Abhängen von gefährlichen Wegen aus hinuntergeschaut. Das Cockpit-Land begann mich zu verfolgen.
Irgendwo - ich habe selbst vergessen, wo es war - stieß ich auf eine kuriose geschichtliche Begebenheit. Nach Waterloo hatte sich eine große Anzahl Leute aus Napoleons Alter Garde zu einer Vereinigung zusammengeschlossen, sie hatten ein Gebiet in Texas in Besitz genommen und versuchten es zu einer Zeit zu kolonisieren, als Texas noch ein Teil Mexicos war und Mexico selbst noch um seine Unabhängigkeit kämpfte. Was war ihnen wohl aller Wahrscheinlichkeit nach geschehen? Da war Raum genug für Mutmaßungen - und ich durfte nicht vergessen, daß Napoleons Tod etwa in diese Zeit fiel. Und natürlich kamen allerlei Hitzkopfe aus den verschiedensten Motiven daher und wollten an diesem Kampf um die Unabhängigkeit teilnehmen.
Ich konnte mir ein paar solche Kerle gut vorstellen, und ich konnte mir auch vorstellen wie sich Hornblower, offiziell wie persönlich, ihnen gegenüber verhalten mochte. Aber über all diesen Ablenkungen durfte ich die ursprüngliche Frage nach dem Verhältnis zwischen Hornblower und Barbara nicht aus dem Auge verlieren. Nun tritt in dieser Geschichte eine Frau auf, eine richtige Frau von Fleisch und Blut, nicht eine bloße Romanfigur wie Barbara und Marie und Maria. Von Fleisch und Blut, aber eine wirkliche Heilige - eine wahrhaft gute Frau, so gut, daß ich auch ohne ihre Erlaubnis wage, diese Geschichte von ihr zu erzählen, und doch hoffen darf, daß sie mir vergibt.
Eine Heilige mit einer entschuldbaren Schwäche, und das ist, daß sie der Anziehungskraft von Blumen einfach nicht widerstehen kann. Zur Frühlingszeit werden die Straßen in den kalifornischen Städten schon durch Hunderte, Tausende von blühenden Bäumen geschmückt. Wie konnte auch irgend jemand der Versuchung widerstehen, ein paar Zweige abzuschneiden, um sie in Vasen zu stellen? Wie kann irgend jemand da widerstehen? Doch fast jeder tut es, soviel ich weiß, ausgenommen meine kleine heilige Freundin. Natürlich ist das gesetzwidrig, und so habe ich mir meine eigene Fassung der Geschichte vom Wunder der heiligen Elisabeth von Ungarn zurechtgemacht. Meine Freundin ist mit ihrer Rosenschere und ihrem kleinen Korb unterwegs und macht schnippschnapp, schnippschnapp. Ein Polizist kommt angefahren. ›Was ist in diesem Korb?‹ fragt er ›Nur Lebensmittel‹ , antwortet meine arme kleine Heilige ›Zeigen Sie her‹ , sagt der Polizist Und sie öffnet ihren Korb, und natürlich ist er voller Lebensmittel.
Seltsam, wie sehr diese Geschichte mich verfolgte. Dann begann es wieder, das alte vertraute Aufrühren der Gefühle, das Wiedererkennen, das Wissen, daß da irgend etwas Form annahm. Und das geschah auch wirklich - und zwar kam alles auf einmal. Schon einmal war mir das passiert, und es wird auch wohl wieder geschehen. Ich verstehe nicht, warum es so ist, daß, wenn ich beim Aufbau einer Geschichte bin, die sich in Episoden aufteilt, alle Szenen auf einmal Gestalt annehmen, jedenfalls soweit meine Fassungskraft es nur eben erlaubt. An einem Tag sind all die Episoden noch chaotisch, formlos, und dann eines schönen Tages, gar nicht so viel später, haben sie alle Form gewonnen und ordnen sich selbst ein - das gleiche hatte ich auch schon beim ›Fähnrich Hornblower‹ und auch bei anderen Büchern erlebt.
Es ist wiederholt vorgekommen, daß Psychologen
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