Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
Scarletts Zahl tatsächlich kam, würde sie das Casino sprengen.
Richard konnte nicht glauben, was gerade passierte. Ob Scarlett das Geld verlor oder nicht, war ihm ziemlich egal. Sie konnten es ohnehin nicht brauchen. Aber sie hatte den Scheich direkt herausgefordert, und indem seine Leute in ihre Wette eingestiegen waren, hatten sie sich eindeutig auf ihre Seite geschlagen. Sie wollten wirklich sehen, wie er eins auf die Nase bekam.
„Was geht hier vor? Was macht ihr da?“ Der Scheich war aufgesprungen und stieß die Umstehenden aus dem Weg, bis er am Roulettetisch angekommen war. „Du hast doch keine Ahnung, was du da tust, du dummes Mädchen. Du verstehst nichts von den Regeln.“ Er sah sich um und erkannte, dass ihn alle missmutig ansahen. Plötzlich war er isoliert und stand ganz allein da. „Also gut!“, verkündete er. „Dreh das Rad! In einer Minute werde ich sehr reich sein!“
Der Croupier tat, was ihm befohlen wurde. Erst setzte er das Rad in Bewegung. Dann warf er die Kugel ein und ließ sie so schnell in die entgegengesetzte Richtung kreisen, dass man ihr kaum mit den Augen folgen konnte.
Richard trat unauffällig näher an Scarlett heran. „Wirst du gewinnen?“, wisperte er.
„Denke schon“, wisperte Scarlett zurück.
Aber würde sie das? Die Kugel wurde bereits langsamer. Sie konnte sehen, wie sie über die Zahlen rollte. Sieben, zwanzig, zweiunddreißig, siebzehn … und da war sie. Die Zahl, auf die sie gesetzt hatte. Die Kugel war noch zu schnell. Sie hatte noch so viel Schwung, dass sie auch bei der nächsten Umdrehung nicht ins gewünschte Feld fallen konnte.
Die Menge wurde nervös. Die paar, die Scarletts Vorbild gefolgt waren, vor allem die mit den größeren Einsätzen, bedauerten jetzt ihre Unüberlegtheit. Dabei ging es nicht nur um das Geld, das sie verloren; sie hatten sich auch gegen den Scheich gestellt und das würde er nicht vergessen. Gerüchten zufolge gab es Folterkammern tief unter dem Palast. Und es war allgemein bekannt, dass diejenigen, die den Scheich beleidigten oder kritisierten, am nächsten Tag verschwunden waren und nie wieder auftauchten.
Jetzt rollte die Kugel von einem Feld ins nächste. Sie fiel in eines und rumpelte in das daneben. Scarlett holte tief Luft. Beinahe wäre die Kugel in der Siebenundzwanzig liegen geblieben. Aber sie rollte weiter – über die Dreizehn hinweg, die Null und die Doppelnull. Die Fünf näherte sich erneut. Und als hätte die Kugel plötzlich alle Kraft verloren, fiel sie ein letztes Mal. Im Casino herrschte Totenstille.
Die Kugel wurde vom Rad gemächlich im Kreis herumbefördert. Sie lag in Fach Nummer fünf.
Der Croupier war der Erste, der reagierte. Er schaute auf die Kugel und dann hoch zu Scarlett, als wären die beiden durch einen Faden miteinander verbunden. Auch Scarlett betrachtete erneut sein Gesicht: den sauber gestutzten Bart, die Brille mit den runden Gläsern, die Goldzähne. Sie kannte ihn natürlich. Sie war ihm mehrmals in der Traumwelt begegnet und er hatte jedes Mal dasselbe zu ihr gesagt: fünf. Was nichts mit den Torhütern zu tun gehabt hatte, sondern nur mit dem Spiel, das sie eines Tages spielen würde. Und an diesem Abend hatte Scarlett gespielt und sich darauf verlassen, dass die Traumwelt da war, um ihr zu helfen. Was sich als zutreffend erwiesen hatte.
Scheich Raschid verzog das Gesicht. Ihm war deutlich anzusehen, welchem Wechselbad der Gefühle er gerade ausgesetzt war: Schock, Unglauben, die Erkenntnis, wie viel Geld er verloren hatte, und das Bedürfnis, seine Autorität so schnell wie möglich wiederherzustellen.
„Was geht hier vor?“, stammelte er. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Wie konnte so etwas passieren?“ Er starrte auf die Chips, die rund um die Fünf verstreut lagen. Ohne jede Vorwarnung packte er den Croupier und schlug ihm hart mit der Faust auf die Nase. Der Mann fiel über das Rouletterad und die Chips flogen in alle Richtungen. „Dieser Durchgang ist ungültig!“, verkündete der Scheich. „Das Mädchen ist noch unter sechzehn. Sie darf noch nicht spielen.“ Er richtete das Wort an seine Untertanen. „Das Casino schließt sofort. Geht nach Hause. Heute wird nicht mehr gespielt!“
Die Spieler sahen nicht glücklich aus, aber keiner von ihnen war lebensmüde genug, sich zu beschweren. Die Leibwächter warteten schon auf den ersten Widerstand, um ihn dann im Keim zu ersticken. Langsam verzogen sich die Schaulustigen. Der Croupier rappelte sich auf.
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