Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
offenen Feuern wendeten, deren Rauch die ohnehin verschmutzte Luft noch mehr verpestete. Auf den Sandbänken lagen Dutzende von Booten kreuz und quer aneinander festgezurrt – die aus Metall rosteten, die aus Holz waren halb verrottet. Es verkehrten immer noch ein paar Fähren zwischen Manhattan und Long Island City, aber dort fuhr niemand hin, der noch bei Verstand war. Die Insel war so überfüllt, dass sich in manchen Häusern zwei oder drei Familien ein Zimmer teilten. Die Kriminalitätsrate war explodiert. Es hieß, man könnte nicht die 21. Straße hinuntergehen, ohne dass einem die Kehle durchgeschnitten und man danach einfach liegen gelassen wurde, bis man verfaulte. Die Polizei kam nie in diese Gegend. Es wurde auch kein Müll mehr abgeholt. Die ganze Region musste allein klarkommen.
Vielleicht lag es an der Klimaanlage, aber Jonas spürte einen kalten Schauder zwischen den Schulterblättern. Er war wirklich froh, hier oben zu sein und nicht da unten. So lange er sich erinnern konnte, war er überzeugt gewesen, auserwählt zu sein. Es hatte keine Rolle gespielt, dass er immer allein war, dass seine Mutter ständig auf der anderen Seite der Welt arbeitete. Sein ganzes Leben lang hatte er immer das beste Essen und die erlesenste Kleidung bekommen. Er hatte Bildung genossen, war ins Theater und in die Oper geführt und zum Lesen ermutigt worden. Wenn er krank war, bemühten sich Ärzte um ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, im Schlamm herumzukriechen wie diese Menschen, die er gerade beobachtete. Menschen? Das war nicht einmal das richtige Wort für sie. Sie waren kaum mehr als Tiere.
„Ein Glas Weißwein?“
Der Vorsitzende hatte das Büro nach ihm betreten und stand jetzt mit einer Flasche hinter ihm.
„Sehr gern, Sir.“
„Ich fürchte nur, er ist nicht richtig temperiert. Sogar hier im UN-Gebäude ist die Stromversorgung unzuverlässig und fällt immer wieder aus. Bitte, nehmen Sie Platz …“
Der Vorsitzende wirkte jünger als zuvor auf dem Podium, als hätte er die Anstrengung seiner langen Rede abgeschüttelt und könnte sich jetzt entspannen. Er bewegte sich langsam durch den Raum, schenkte zwei Gläser ein und setzte sich dann hinter seinen Schreibtisch. Jonas nahm sich ein Glas und ließ sich auf der Ledercouch nieder. Ihm wurde klar, dass er nichts über den Vorsitzenden wusste – wo er lebte, ob er eine Familie hatte, nicht einmal seinen Namen.
„Auf Ihr Wohl, Sir“, sagte er.
„Nein, Jonas. Ich fürchte, Sie trinken auf etwas, das nicht mehr existiert. Ich bin alt und mein Körper ist voller Krebsgeschwüre. Glücklicherweise gibt es Medikamente, die ein wenig helfen, aber die Wahrheit ist, dass mir vermutlich kein Jahr mehr bleibt. Vielleicht sollten wir auf die Alten trinken. Und auf die neue Welt, bei deren Erschaffung sie uns helfen.“
„Natürlich.“ Jonas nippte an seinem Wein. Er war hervorragend. Er fragte sich, wie viele Hundert Dollar die Flasche wohl gekostet hatte.
„Nun, wie hat Ihnen die Sitzung gefallen?“, fragte der Vorsitzende. Sein Gesicht war undurchdringlich. Es war so runzlig und faltig wie eine lederne Maske.
„Ich fand sie amüsant“, antwortete Jonas.
„Das sehen die anderen Delegierten vermutlich anders.“
„Ganz bestimmt.“ Jonas zögerte einen Moment und ließ seinen Wein im Glas kreisen. „Was haben Sie mit »Modifikationen’ gemeint – sofern Sie diese Frage erlauben.“
„Wie bitte?“
„Sie sagten, dass im Ausbildungslager Modifikationen an einigen von ihnen vorgenommen werden sollten.“
„Ach, das.“ Der Vorsitzende zeigte sich uninteressiert. „Man wird ihnen eine Hand oder einen Arm abschneiden und durch ein Messer oder eine Säge ersetzen. Es dürfte einem Soldaten schwerfallen, seine Waffe zu verlieren, wenn er selbst die Waffe ist. Wir werden auch andere Veränderungen an ihnen vornehmen. Wir werden ihre Gesichter entstellen, um sie hässlicher zu machen. Nimmt man jemandem die Lippen weg, fletscht er dauerhaft die Zähne. Es wird unsere Gegner in Angst und Schrecken versetzen. Außerdem werden alle gebrandmarkt werden – Name, Rang und Seriennummer. Damit sie sich zugehörig fühlen.“
Eine Weile herrschte Schweigen. Die beiden Männer tranken ihren Wein.
„Stört es Sie manchmal, Jonas?“, fragte der Vorsitzende. „Wenn die Alten mit Ihnen fertig sind, werden sie Sie vermutlich auch töten.“
Jonas zuckte mit den Schultern. „Das wird nicht passieren, solange ich ihnen noch von Nutzen bin.“
„Und
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