Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
aufgebrochen waren, folgten sie einem Gewirr aus Straßen und kleinen Gassen, die sie immer tiefer in die Stadt führten. Die ganze Zeit spürte Pedro die Burg, in der man ihn gefangen gehalten hatte, drohend hinter sich aufragen, und er fragte sich, ob sie wohl immer noch innerhalb der Mauern nach ihm suchten oder ihre Suche bereits auf die Stadt ausgedehnt hatten. Auf jeden Fall war er froh, so weit von dort wegzukommen, wie es nur ging.
Neapel war überfüllt. Genau genommen war es mehr als nur überfüllt. Pedro erkannte schnell, dass sich eine schier unglaubliche Anzahl von Menschen im Freien aufhielt – Tausende und Abertausende überfluteten die Gehsteige, hockten in Eingängen, standen Schlange für etwas zu essen, für eine Unterkunft, für Arbeit, für ein Bett für die Nacht oder auch nur, weil sie nichts anderes zu tun hatten. Ganze Familien hockten zusammen: runzlige Großmütter ganz in Schwarz, Kinder in Lumpen, erschöpfte Mütter mit Babys im Arm. Viele der Leute schleppten riesige Bündel mit sich, in denen vermutlich ihr gesamter Besitz verpackt war. Andere hatten ihre Habe auf Handwagen oder Schubkarren geladen. Und sie trugen so viele Kleidungsstücke übereinander, dass sie kaum noch menschlich aussahen, sondern vielmehr wie runde Kleiderkugeln in alten Jacken und abgewetzten Mänteln, die mühsam vorwärtsschlurften und sich unter all den Sachen nur schwerfällig bewegen konnten.
Überall waren Polizisten. Sie trugen dieselben schwarzen Uniformen wie die Wärter in der Burg, waren mit Pistolen und Schlagstöcken bewaffnet und immer zu zweit unterwegs. Im ersten Moment dachte Pedro, dass sie nach ihm suchten. Er ging in Deckung und hatte zu viel Angst, um weiterzugehen. Aber Giovanni drängte ihn dazu. Die Polizisten waren da, um die Menge in Schach zu halten, und hielten immer wieder jemanden an, um ihn zu befragen und sich den Ausweis zeigen zu lassen. Die beiden Jungen hielten den Kopf gesenkt und bewegten sich so schnell durch die Menge, wie es ging, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie waren Freunde auf dem Heimweg. Was machte es schon, dass sie nass und dreckig waren? Vielleicht hatten sie am Strand miteinander gerauft – was konnte unschuldiger sein als das?
Es war kein einziges Auto unterwegs. Das verblüffte Pedro. Wie konnte eine moderne Stadt ohne Autos, Busse oder Taxis auskommen? Und was ihm auch auffiel – da waren Straßenbahnschienen, aber keine Straßenbahn. Ein paar Leute überholten sie auf Fahrrädern und schlängelten sich damit durch die Menge, aber die meisten Menschen gingen zu Fuß. Und obwohl er über seinem Kopf kreuz und quer in alle Richtungen verlaufende Stromleitungen sehen konnte und aus einigen der höher gelegenen Fenster weißes Licht schien, waren die Straßen und die meisten Gebäude dunkel. Niemand schien sich zu amüsieren. Die meisten Geschäfte waren geschlossen. Es gab keine Restaurants oder Cafés. Keine Musik war zu hören – weder live noch aufgezeichnet. Es war fast, als hätten sich alle deprimierten Menschen dafür entschieden, zusammen an einem Ort zu leben, was sie nur noch deprimierter werden ließ.
Giovanni zog ihn am Arm von der Straße, der sie gefolgt waren, in eine enge Gasse, in der die Häuser so dicht beieinanderstanden, dass sie sich fast zu berühren schienen. Sie kamen an einer Verkaufsstelle für Lebensmittel vorbei, vor der eine unendliche Schlange stand. Daneben war eine Pfandleihe, in der ein bärtiger alter Mann hinter einem Schreibtisch saß und mit einer ins Auge geklemmten Lupe einen Goldring betrachtete. Sie bogen um eine Ecke, liefen unter einem Torbogen hindurch und dann ein paar Stufen hinauf in einen Hinterhof, gebildet von vier heruntergekommenen Wohnblocks mit jeweils acht Stockwerken und identischen Fenstern, Fensterläden und schmiedeeisernen Balkongittern. Überall hing Wäsche schlapp herunter, die im schwindenden Licht merkwürdig farblos aussah. Die unheimliche Stille, die in der Stadt geherrscht hatte, schien ihnen hierher gefolgt zu sein. Pedro hätte erwartet, einen Fernseher zu hören oder wenigstens ein Radio, aber da war gar nichts. Die beiden betraten ein altmodisches Treppenhaus, auf dessen Betonstufen weitere Familien hockten. Als Pedro an ihnen vorbeihuschte, spürte er, wie sie ihm nachsahen, und er konnte das Weiße in ihren Augen sehen, während sie ihn im Halbdunkel musterten.
Es gab einen Fahrstuhl, doch er funktionierte nicht. Sie gingen zu Fuß in den sechsten Stock und kamen
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