Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
Kinder. Sie sahen sich ähnlich und er vermutete, dass sie derselben Familie angehörten, auch wenn es nicht das war, was sie vereinte. Sie waren alle Überlebende. Die Welt draußen hatte ihnen nichts mehr zu bieten. Ihr Leben fand in diesen drei Zimmern statt.
Der alte Mann verstummte. Francesco richtete das Wort wieder an Pedro. „Ich bin Giovannis Onkel“, sagte er. „Sein Vater war mein Bruder, aber er ist tot. Dieser Mann –“, er warf dem Älteren, der gerade gesprochen hatte, einen Blick zu – „ist mein Vater. Das sind meine Frau und ihre Schwester und die beiden Mädchen sind ihre Kinder. Wir haben Glück, weil wir diese Wohnung haben. Mein älterer Bruder Angelo arbeitet im Hafen, wo sein Boot liegt. Er war Fischer, aber jetzt gibt es natürlich keine Fische mehr. Und Giovanni ist Küchenjunge im Castel Nuovo, wo man dich gefangen gehalten hat. Sie behandeln ihn schlecht, aber wenigstens kann er uns Essen bringen. Sie bezahlen ihn sogar, was bedeutet, dass wir nur durch ihn noch am Leben sind.
Zuerst war ich wütend, dass er dich mitgebracht hat. Die Polizei sucht bestimmt schon nach dir. Wenn sie dich hier finden, ist das unser aller Ende. Aber Giovanni sagt, dass er gehört hat, wie sie über dich gesprochen haben. Er sagt, dass sie Angst vor dir haben und dass du der Feind bist – deswegen hat er dich zu uns gebracht.“
„Warum sind in dieser Stadt so viele Menschen?“, fragte Pedro. „Was machen die alle auf der Straße?“
„Es sind Flüchtlinge.“ Francesco murmelte seiner Frau etwas zu, die sofort aufstand und den Topf mit der Suppe holte. Sie schöpfte Pedros Schale erneut voll. Die Kinder sahen die Suppe sehnsüchtig an und Pedro fühlte sich schuldig, weil sie nichts bekamen. „Neapel wimmelt von Flüchtlingen“, fuhr Francesco fort. „Sie kommen aus Süditalien wegen der Überschwemmungen und aus dem Norden wegen der Hungersnot. In ganz Osteuropa herrscht Krieg und die Menschen aus Rumänien, Slowenien und Kroatien sind ebenfalls hierher geflohen und haben ihre gesamte Habe mitgebracht, weil sie hoffen, hier ein neues Leben anfangen zu können. Manche kommen sogar aus so fernen Ländern wie Afrika oder Indien. Jede Nacht sterben Hunderte von ihnen auf den Straßen und im Winter wird es noch viel schlimmer werden. In Aversa und Arienzo sind riesige Lager errichtet worden, in denen Zehntausende leben, aber die Regierung ist nicht wirklich daran interessiert, ihnen zu helfen. Sie lassen sie lieber sterben. Manche sagen, dass es die Lager nur gibt, um diesen Vorgang zu beschleunigen.“ Er verstummte kurz. „Du weißt nichts darüber?“
Pedro schüttelte den Kopf. „Nein. Ich verstehe das nicht. Was Sie da sagen … die Welt ist nicht so!“
„Was redest du da? Wie meinst du das?“
„Ich rede von der Welt, die ich kenne. Ich habe Zeitung gelesen. Und ferngesehen. Da war keine Rede von irgendwelchen Kriegen …“
„Es gibt keine Zeitungen und wie soll es Fernsehen geben, wenn wir keinen Strom haben?“ Francesco musterte Pedro. „Was du sagst, hört sich verrückt an, und ich weiß nicht, ob wir dir trauen sollen. Aber Giovanni sagt, dass sie Angst vor dir haben, und das ist gut genug. Wir müssen dir helfen. Und mein Vater, der in jungen Jahren an der Universität von Rom Theologie studiert hat, hat aufgehorcht, als du gesagt hast, dass es fünf von euch gibt.“
„Cinque!“, wiederholte der alte Mann und nickte energisch mit dem Kopf.
„Aber wer immer du bist und was immer dich hergeführt hat, du kannst nicht in Neapel bleiben. Das ist wichtiger als alles andere. Ich muss für die Sicherheit meiner Familie sorgen. Du denkst bestimmt, dass es unmöglich ist, dich in einer Stadt zu finden, die so voller armer Leute ist, die weder Adresse noch Papiere haben. Du siehst sogar italienisch aus. Aber du hast keine Ahnung, was deinetwegen passieren wird. Wenn du der bist, für den mein Vater dich hält, wird die Polizei ganze Gebäude niederreißen und alle Bewohner verschleppen, um dich zu finden. Und jeder der Menschen, die dich heute Abend gesehen haben, wird dich mit Freuden für eine warme Mahlzeit verkaufen. Bis jetzt ist noch nicht viel geschehen, weil sie nicht davon ausgehen, dass du einen Weg aus dem Castel Nuovo gefunden hast. Im Gegensatz zu Giovanni wissen sie nichts von den Abwasserrohren. Aber es wird bald losgehen und bis dahin musst du weg sein.“
Der alte Mann begann wieder zu sprechen, aber Francesco brachte ihn mit einer Handbewegung zum
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